Der nasse Fisch
sachlich und präzise. Wolter hatte nicht vergessen, das Auftreten Dr.
Völckers genau zu schildern, vor allem die Tatsache, dass der Arzt es war, der die sichergestellte Kugel aus dem Holz geholt
hatte. Er hatte es so formuliert, dass der Verdacht sich geradezu aufdrängte, der Kommunist habe das Geschoss ausgetauscht.
In jedem Fall aber hätte austauschen können. Und damit war das Spitzgeschoss als Beweismittel nicht mehr viel wert.
»Es war eine Polizeikugel«, meinte Rath. Ihm gefiel es nicht, wie dieser Bericht mit der Wahrheit umging. Andererseits blieb
einem manchmal nichts anderes übrig. Auch Dr. Völcker würde dieWahrheit verdrehen, wenn es ihm nützte, diesen Eindruck hatte er jedenfalls im Leichenschauhaus gemacht. So klang der Protest
in Raths Stimme eher matt.
»Ein Spitzgeschoss, wie wir es in unseren Karabinern verwenden«, stimmte Wolter ihm zu, »ich habe es ja selbst zur Ballistik
gebracht. Ein Spitzgeschoss, das mir ein Kommunist gegeben hat. Was beweist das schon? Außer, dass es Kommunisten gibt, die
Polizeikugeln sammeln?«
Über Wolters Verhältnis zur Wahrheit musste Rath noch nachdenken, als er nach Dienstschluss in einem Café in der Tauentzienstraße
saß, einen ganzen Stapel Zeitungen vor sich auf dem Tisch. Natürlich wusste Rath, dass es verschiedene Versionen der Wahrheit
gab. Jeder Polizeibeamte wusste das, bei jeder Gerichtsverhandlung konnte er diese Erfahrung aufs Neue machen. Es gab findige
Anwälte, denen es gelang, noch so eindeutige Sachverhalte in Frage zu stellen. Umso wichtiger war die Arbeit der Polizei:
dem Staatsanwalt wasserdichte Beweise an die Hand geben, die kein Anwalt je zerpflücken konnte. Und Wolter? Er hatte vorhin
das genaue Gegenteil gemacht, er hatte ein Beweismittel durch seinen Bericht unbrauchbar gemacht. Natürlich nur, um die Polizei
vor den Angriffen der Kommunisten zu schützen. Aber heiligte der Zweck wirklich jedes Mittel?
Vor Gericht würden sie dann da stehen, mit ihren unterschiedlichen Versionen der Wahrheit, Wolter und Völcker, der Bulle und
der Kommunist. Auf welche Seite würde sich der Zeuge Gereon Rath schlagen? Eigentlich durfte er darüber nicht einmal nachdenken,
eigentlich war es undenkbar, als Polizeibeamter gegen die Polizei auszusagen. Dann könnte er gleich einpacken. Er würde sich
wohl damit herausreden, nichts gesehen zu haben. Und hatte schon jetzt kein gutes Gefühl dabei.
Sollte der geschickt getürkte Bericht wieder einmal so etwas wie eine Lektion gewesen sein? Schon mehrmals hatte er das Gefühl
gehabt, Bruno versuche ihm etwas beizubringen, den Provinzbullen Gereon Rath mit den Berliner Gepflogenheiten vertraut zumachen. Er wusste, dass Bruno ihn schätzte, und er hielt ebenfalls große Stücke auf den erfahrenen Kollegen, doch was er von
diesen Nachhilfestunden halten sollte, wusste er nicht so recht. Erst Brunos Gewaltausbruch auf dem Karstadtgerüst, und nun
die Lektion im Wahrheitverbiegen. Aber vielleicht musste man das ja draufhaben, um in dieser Stadt zu überleben. Vielleicht
war er schon für eine Provinzstadt wie Köln viel zu naiv gewesen. Vielleicht hatte LeClerk ihn mit seiner Pressekampagne nur
deshalb so in die Mangel nehmen können.
Rath erinnerte sich an den Moment, als er Alexander LeClerk zum ersten Mal begegnet war. Ein Gesicht wie Beton. Das Gesicht
eines Mannes, den man zur Identifizierung seines toten Sohnes gebeten hatte. Auf dem Marmortisch hatte der Tote nicht mehr
wie ein Wahnsinniger ausgesehen. Ein Wahnsinniger, der auf ahnungslose Passanten schießt. Ein bleicher junger Mann mit toten
Augen, der keine dreißig Jahre alt geworden war. Weil ein anderer Mann den Zeigefinger gekrümmt hatte. Weil Gereon Rath den
Zeigefinger gekrümmt hatte.
Schweigend waren sie im Flur der Gerichtsmedizin aneinander vorbeigegangen, der Polizist und der Vater. Rath hatte nicht gewusst,
was er sagen sollte. Wie einem Mann begegnen, dessen Sohn man getötet hat? Unsicher hatte er kurz den Arm ausgestreckt, um
zu kondolieren, wohl spürend, wie unpassend das war. LeClerk hatte ihn keines Blickes gewürdigt. In dem Betongesicht war keinerlei
Regung zu erkennen gewesen, weder Trauer noch Zorn.
Alexander LeClerk, einer der bedeutendsten Zeitungsverleger Kölns.
Bald darauf hatte es begonnen. Jeden Tag eine Schlagzeile. Die erste: Kugelhagel im Agnesviertel. Ist unsere Polizei schießwütig? Gleich im ersten Artikel tauchte der Name Gereon Rath auf,
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