Der nasse Fisch
sich zunächst konzentriert auf rechts- und linksradikale Scharfmacher, die sich an der Vorstellung berauschten, dass aus den schweren Krawallen mit der Zeit ein frischer fröhlicher Bürgerkrieg
werden könnte , wie es die Vossische Zeitung formuliert hatte. Doch mittlerweile verurteilten auch sie das Vorgehen derPolizeikräfte, und zwar als unverhältnismäßig brutal. Unter den Toten waren zu viele Unbeteiligte, um noch von einem den Umständen
angemessenen Einsatz sprechen zu können. Zörgiebel würde Schwierigkeiten bekommen. Vaters Duzfreund trug die volle Verantwortung
für den martialischen Polizeieinsatz, er hatte die Unruhen mit seinem strengen Demonstrationsverbot geradezu herausgefordert.
Überall sonst in Deutschland waren die Maidemonstrationen friedlich verlaufen, von einigen Schlägereien zwischen Sozis und
Kommunisten einmal abgesehen.
Aber eigentlich war es Rath nicht um die Zörgiebel-Kritiken gegangen, als er vorhin am Wittenbergplatz eine Station früher
aus der U-Bahn gestiegen war und sich im Café Zuntz mit Zeitungen eingedeckt hatte. Er hatte mehr über einen anderen Polizeieinsatz erfahren wollen, den die Maiunruhen aber
ausnahmslos auf die hinteren Seiten verbannt hatten. Dafür waren sich die Blätter bei dem Toten aus dem Landwehrkanal ausnahmsweise
einmal einig: Alle Zeitungen bezeichneten den Fall als mysteriösen Todesfall am Landwehrkanal , alle hatten nur die gleichen mageren Informationen zu bieten, und alle hatten ein Bild des Toten veröffentlicht und dazu
die Zeile gedruckt: Wer kennt diesen Mann? Hier hatte die Pressearbeit der Burg also funktioniert, alle großen Zeitungen hatten mitgezogen. Was sollten sie auch tun?
Die eigene Wahrheit konstruieren, das war vor allem die Kunst des Weglassens, doch in diesem Fall hatte die Journaille so
wenig, dass sie gar nichts mehr weglassen konnte.
Gedankenverloren rührte Rath in seiner fast leeren Kaffeetasse und schaute aus dem Fenster auf das Samstagnachmittagsgewimmel
vor dem KaDeWe. Ohne es zu merken, verzog er seinen Mund zu einem leisen Lächeln. Böhm musste völlig im Dunkeln tappen. Die
Inspektion A hatte eine Leiche, von der sie nicht einmal den Namen kannte. Rath sah seine Chancen, in diesem Spiel mitzuspielen,
ein großes Stück wachsen.
»Noch einen Kaffee, der Herr?«
Der Kellner war an seinen Tisch getreten. Seine Miene hatte etwas Beleidigtes. Rath taxierte den Mann von oben bis unten,
alshabe dessen äußere Erscheinung großen Einfluss auf seinen Kaffeedurst.
»Danke, zahlen!«, sagte er schließlich. Er hatte genug gelesen. Zeit zum Handeln.
»Zahlen, der Herr? Sehr wohl.« Der Kellner tat ungerührt. »Dann besteht also berechtigte Hoffnung, dass sich auch die anderen
Gäste unseres Hauses heute noch der Zeitungslektüre widmen können?«
Der Mann im Frack rauschte ab, um die Rechnung zu holen. Rath wartete nicht, bis er zurückkam. Er legte das Geld auf den Tisch.
Aus dem Tageblatt riss er das Foto des toten Boris und nahm es mit. Nun hatte er Porträts von zwei Russen, vielleicht würde ihn das weiterbringen.
Das Mietshaus am Luisenufer kam ihm vor wie ein alter Bekannter. Nur dass die Suche nach Alexej Kardakow ihn jetzt weitaus
mehr interessierte als noch vor fünf Tagen. Im Hof hörte er jemanden Teppich klopfen. Rath trat in den Hausflur. Im Treppenhaus
roch es nach Putzmittel.
Ganz unten machte er den Anfang. Die Portierswohnung. Schäffner stand auf dem Klingelschild. Er schellte. Nichts passierte. Nach einer Weile drückte er die Klingel noch einmal. Endlich
hörte er Geräusche. Ein Riegel wurde beiseite geschoben, ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Tür öffnete sich ein wenig,
und ein dicker Frauenkopf schaute durch den Spalt.
»Ja?«
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie an einem Samstag stören muss …«
Rath brauchte einen Moment, um ihren verständnislosen Blick zu deuten, dann verbesserte er sich: »… Sonnabend, meine ich …«
Auch sprachlich war er noch nicht ganz in der Stadt angekommen. »Kriminalpolizei«, fuhr er fort, »könnte ich Ihnen ein paar
Fragen stellen?«
»Sie sind aber nich von hier!« Misstrauen klang aus dem Türspalt. »Können Sie sich ausweisen?«
Er hielt seinen Dienstausweis in den Spalt.
»Und wat wollense?«
»Vielleicht darf ich erst mal reinkommen?«
Sie trat beiseite und öffnete die Tür ganz.
»Na, denn kommense mal rin, bevor noch det janze Haus mitbekommt, dass die Polizei da ist. Aber passense
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