Der nasse Fisch
hier lebte. Dann konnte ihn auch keiner besuchen. Er hätte
einigen seiner Freunde – seiner früheren Freunde, musste er wohl sagen – durchaus zugetraut, sich ähnlich zu benehmen, wie
er es gerade bei den weinseligen Schwaben erlebt hatte.
Rath schaute auf die Uhr. Mitternacht durch, und er war noch kein Stück weitergekommen. Er spürte den langen Tag in seinen
Knochen. Die Russenlokale in der Gegend hatte er ebenso systematisch wie erfolglos abgeklappert. Er hatte sich seine nächtliche
Aktion einfacher vorgestellt, als er seine Befragung in der kleinen russischen Heimwehkneipe in der Nürnberger Straße begonnen
hatte. Hier in dem verräucherten Lokal mit den niedrigen Decken und der kyrillischen Speisekarte, wo er selbst einmal unter
einem Zarenporträt gesessen und Soljanka gelöffelt hatte, hätte er fast darauf gewettet, jemanden zu finden, der den Russen
auf dem Bild erkannte. Diese Wette hätte er verloren. Dabei war der Laden keine fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt,
von der Wohnung, in der Alexej Kardakow noch vor wenigen Wochen gewohnt hatte. Doch Rath erntete nur Kopfschütteln. Entweder
hielten die Russen dicht, wenn jemand in ihre Welt einzudringen wagte, oder aber Kardakow hatte das Lokal tatsächlich niemals
besucht. Rath tippte auf Ersteres, denn auch in den weltoffeneren Treffpunkten der Intellektuellen hatte er nur Njet gehört,
wenn er Kardakows Bild vorzeigte. Und er war sich sicher, dass ein Mann wie Alexej Kardakow in dieser Gegend unterwegs war,
wenn er seiner Sehnsucht nach Schwermut, Alkohol und Landsleuten nachgab. Charlottenburg war immer noch das Zentrum der Russen
in Berlin. Hier hatten sie ihre eigene Welt aufgebaut, eine Welt mit russischen Buchläden, Friseuren und Kneipen, eine Welt,
in der man kein Wort Deutsch sprechen musste, um sich zurechtzufinden. Charlottengrad nannten die Berliner dieses Paralleluniversum.
Rath überquerte die Augsburger Straße und zählte sein Geld. Die Leuchtschrift der Kakadu-Bar spiegelte sich im nassen Pflaster. Immer wieder parkten Taxen vor dem Eingang und spuckten Menschen aus. Die meisten Bars
in Berlin hatte er bislang rein dienstlich kennen gelernt, der Kakadu war eine der wenigen, der er auch privat ein paar Besuche abgestattet hatte. Eines Abends, als er schlaflos um die Häuser
strich, war er zufällig dort hineingeraten. Er mochte die Jazzband, die auf dem kleinen Podium zum Tanz spielte.Die Bar lag genau dort, wo Joachimsthaler Straße und Augsburger Straße auf den Kurfürstendamm stießen. Also nicht allzu weit
entfernt von Raths Wohnung. Bevor er dorthin zurückging, wollte er noch etwas trinken. Und zwar keinen Tee mit Rum.
Der rot-goldene Raum war proppevoll, als er eintrat. Die Band übertönte das Stimmengewirr, einige Paare bewegten sich auf
der Tanzfläche mitten im Raum. Rath schaute sich um. Sämtliche Barhocker an der lang gestreckten Theke im hinteren Teil des
Lokals waren besetzt. Kakadus und andere Paradiesvögel turnten auf den von hinten erleuchteten Glasscheiben, vor denen wieselflinke
Barmänner im Gegenlicht eifrig lächelnd die Bestellungen entgegennahmen.
Im Kakadu waren überwiegend Leute mit dickem Geldbeutel unterwegs, der Laden war nicht ganz billig. Rath stellte sich zwischen zwei
Männer, die aussahen, als würden sie gleich von ihren Barhockern kippen, und winkte einen Barmann heran. Der Mann beugte sich
zu ihm, um seine Bestellung aufzunehmen, und sah ihn dabei an, als würde er ihn kennen. Rath wusste, dass dem nicht so war,
so hatten sie ihn schon bei seinem ersten Besuch angeblickt, das gehörte zum Service. Jeder sollte sich wie ein Stammgast
fühlen.
»Einen Americano bitte«, sagte er, lehnte sich an den Tresen und hörte der Band zu. Obwohl die Musik in die Beine ging, spürte
er mit einem Mal seine Müdigkeit. Kein Wunder, er war seit dem frühen Morgen unterwegs.
Der Barmann kam zurück und stellte ein Glas auf den blankpolierten Tresen. Rath ließ ein Markstück in seine Hand fallen und
zückte das Foto. Der Barmann wirkte gelangweilt. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Er zuckte die Achseln. Auch
Diskretion gehörte hier zum Service.
Eigentlich hatte er das in diesem Lokal vermeiden wollen, doch Rath legte seinen Dienstausweis neben das Foto.
»Haben Sie diesen Mann wirklich noch nicht gesehen?«
Noch ein Achselzucken. »Hier ist jeden Tag so viel los …«
»Er ist Russe«, half Rath nach und legte unauffällig
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