Der nasse Fisch
LeClerk hatte seine Reporter offensichtlich mit Hintergrundwissen
gefüttert. Allein in diesem ersten Artikel wurde Raths Name fünfmal aufgeführt, ebenso erwähnt, dass es sich um den Sohn des
berühmten Engelbert Rath handele. Todesschütze Gereon Rath . Wie ihn diese Worte getroffen hatten! Jede Silbe wie ein Projektil. SeinVater hatte versucht, Einfluss zu nehmen, doch das hatte LeClerks Schlagzeilenkrieg nur angestachelt: Nun wurde auch Rath
senior unter publizistisches Feuer genommen. Das ungefähr war der Zeitpunkt, an dem sie Gereon Rath aus der Schusslinie genommen
hatten. Für die Zeit der Verhandlung wurde er beurlaubt. Doch als er nach dem Freispruch wieder seinen Dienst antrat, hagelten
die Schlagzeilen von neuem, schärfer als je zuvor.
LeClerk wollte offenbar seinen Kopf, koste es, was es wolle. Die Rache eines Publizisten für den toten Sohn. Der Verleger
schien gewillt, seine Reporter nicht eher ruhen zu lassen, bis die Polizeikarriere des Kriminalkommissars Gereon Rath in Trümmern
lag. Als klar wurde, dass Rath als Polizist in Köln keine ruhige Minute mehr haben würde, hatte sein Vater den Plan entwickelt.
Zusammen mit Otto Bauknecht, dem Kölner Polizeipräsidenten, hatte er seinen Sohn bearbeitet, und schließlich hatte der eingewilligt.
Engelbert Rath hatte seine Kontakte zum lieben Karl spielen lassen – er duzte den Berliner Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel seit gemeinsamen Kölner Zeiten – und so den Transfer
nach Berlin eingefädelt. Und gleichzeitig in Köln falsche Fährten gelegt.
Als die letzte Schlagzeile erschien, saß Gereon Rath im Zug nach Berlin. Wenigstens dieses Mal hatte die Desinformationspolitik
seines Vaters funktioniert. In Köln kannten nur Engelbert Rath und Otto Bauknecht die Wahrheit. Und in Berlin wusste nur Polizeipräsident
Zörgiebel von der Kölner Vergangenheit des Kriminalkommissars Gereon Rath, Inspektion E, Alexanderplatz.Ausgerechnet die Sitte hatten sie für ihn ausgesucht, weil dort gerade eine Stelle vakant war! Doch Engelbert Rath hatte auch
diesem Umstand noch etwas Positives abgewinnen können. »Da kommst du wenigstens nicht so schnell in die Situation, schießen
zu müssen«, hatte er seinem Sohn zum Abschied gesagt, als sie ihm bereits die Koffer ins Abteil reichten. Rath hatte seinen
Eltern nicht gewunken, als der Zug sich in Bewegung setzte, stumm hatte er gesehen, wie sich der Bahnsteig mit den winkenden
Menschen entfernte, bis sich das stählerne Gerüst der Hohenzollernbrücke in sein Blickfeld schob. Nach einem letzten Blick
auf den Dom hatteer die Zeitung aufgefaltet und die Schlagzeilen gelesen: Todesschütze quittiert den Dienst.
Wahrheit war eine biegsame Ware, das hatte Rath zu spüren bekommen. Vielleicht sollte er bei Weinert in die Lehre gehen, der
war ja im gleichen Geschäft wie LeClerk. In der ganzen Kochstraße verbogen sie die Wahrheit, so lange, bis sie zum jeweiligen
Blatt passte. Hier etwas weglassen, da etwas umformulieren.
Obwohl der Kaffee kalt war, nahm Rath noch einen Schluck und blickte auf den Papierberg auf seinem Tisch. Rund ein Dutzend
Zeitungen hatte er vorhin durchgeblättert, und obwohl es fast alles bürgerliche Blätter waren und sie den Ereignissen der
letzten Tage alle die gleiche Wichtigkeit einräumten, hatte jede einzelne ein anderes Bild von den Maiunruhen gezeichnet.
Einig war man sich allein darin, dass es sich um die schwersten Straßentumulte seit zehn Jahren handelte. Aber selbst zur
Zahl der Todesopfer gab es unterschiedliche Angaben. Einige Blätter folgten den offiziellen Mitteilungen der Polizei, andere
lasen sich wie Abenteuergeschichten oder Kriegsberichte. Rath fragte sich, wo die Journalisten ihre Informationen hergenommen
hatten. Der Reporter des Tageblatts schien wenigstens dabei gewesen zu sein, die liberale Presse verließ sich nicht allein auf die amtlichen Verlautbarungen.
Die Vossische Zeitung hatte zwar den Bericht des Polizeipräsidenten abgedruckt, ihn aber als solchen kenntlich gemacht und neben die eigenen Berichte
gestellt. Das Blatt hatte das Wort von Berlins blutigem ersten Mai geprägt, das schon die Runde machte. Blutmai.
Der Großeinsatz der Berliner Polizei hatte keine guten Kritiken bekommen. Die konservative und die nationale Presse hielten
ihn im Grunde für richtig, die Ausführung aber für stümperhaft, Sozis traute man ein richtiges Durchgreifen eben nicht zu.
Die Kritik der liberalen Blätter hatte
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