Der nasse Fisch
zwei Schwergewichtsringern?
So einer würde bestimmt oben auf der Empore sitzen. Aber auch dort entdeckte er niemanden, bei dem sein Polizisteninstinkt
Alarm geschlagen hätte. Schließlich hatte sich der Saal fast geleert, er gab auf und ging ebenfalls ins Foyer.
Das Foto trug er zusammen mit dem Programmheft wieder lässig in der Hand und schlenderte so durch die Gruppen rauchender,
trinkender und schwatzender Menschen. Doch offensichtlich ließ das Konterfei von Alexej Kardakow die Leute hier kalt. Warum
hatte Gloria ihn ins Plaza geschickt? Was hatte Dr. M. mit dem Varieté zu tun? Gehörte es ihm, und Jules Marx war nur ein Strohmann? Dann würde Dr. M. kaum jede Vorstellung besuchen. Eher im Büro sitzen. Eigentlich Blödsinn, hier auszuharren. Er hätte
im Eldorado mehr Informationen aus Gloria rausquetschen müssen.
Vielleicht sollte er mal nach oben gehen und in die Büros schauen.
»Halt, da können Sie nicht rauf!«
Er hatte erst drei, vier Stufen genommen, als ihn einer der befrackten Saaldiener zurückpfiff.
Rath versuchte, möglichst wie ein Geschäftsmann zu wirken. Immerhin trug er seinen besten Anzug. »Entschuldigung«, sagte er,
»aber ich müsste jemanden von der Geschäftsführung sprechen …«
»Sind Sie mit dem Programm nicht zufrieden?«
»Nein, das nicht«, log er, »ich müsste dringend mit Herrn Marlow sprechen. Man sagte mir, dass ich ihn hier finde.«
»Da hat man Sie falsch informiert. Hier arbeitet kein Herr Marlow.«
»Dr. Marlow?«
Der Saaldiener zog die rechte Augenbraue hoch und schaffte es, nur eine Hälfte seiner hohen Stirn in Falten zu ziehen. »Bedaure«,
sagte er. »Aber wie ich schon sagte: Man muss Sie falsch informiert haben. Darf ich Sie jetzt bitten, die Treppe zu verlassen.«
»Der Name sagt Ihnen gar nichts?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Entnervt gab Rath auf. Die Menge strömte bereits zurück in den Saal. Er ließ auch den Rest des Programms über sich ergehen,
ohne dass auf der Bühne irgendein Großer Marloni ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert oder ein Dr. M. als Messerwerfer geglänzt
hätte. Marlow unter den Künstlern zu finden hatte er allerdings auch nicht ernsthaft erwartet.
Doch irgendetwas musste Dr. M. mit dem Plaza verbinden, dachte er, als er, wütend über die vertane Zeit, mit einer Herde Varietébesucher zur Stadtbahn zurückstapfte.
Oder aber Gloria hatte ihn gekonnt über den Tisch gezogen. Würde sie das wagen? Eigentlich nicht. Das Eldorado war auf freundlich gesinnte Sittenbullen angewiesen. Vielleicht war er einfach am falschen Tag hier. Oder Marlow hatte ihn längst gefunden und wollte ihn gar
nicht sprechen.
Es waren einige hundert Leute, die vom Plaza zum Schlesischen Bahnhof strömten, und so merkte Rath nicht, dass ihn jemand verfolgte.
[ Menü ]
12
I n der Burg herrschte am Montagmorgen allgemeine Katerstimmung. Die grauen Gänge des Polizeipräsidiums wirkten noch grauer
als sonst. Der dreitägige Großeinsatz hatte sich zu einem Desaster für die Polizeiführung entwickelt. Das Presseecho war verheerend;
Berthold Weinert war nicht der einzige Journalist, der die Maieinsätze der Berliner Polizei verurteilte. Das Wort Blutmai machte die Runde. Wie es die Vossische Zeitung vorformuliert hatte.
Zweiundzwanzig Tote hatte die Statistik bislang erfasst, und viele Verletzte schwebten noch in Lebensgefahr. Die Polizei hatte
große Mengen an Munition verbraucht: 7885 Schuss waren aus Polizeipistolen abgefeuert worden, weitere 3096 Schuss aus Karabinern
und Maschinengewehren. Die Buchführung der Berliner Polizei war auch in dieser Hinsicht preußisch genau.
An beschlagnahmten Waffen hatten die Beamten weniger zu zählen gehabt. Die Hausdurchsuchungen im Wedding und in Neukölln hätten
sie sich sparen können. Kaum der Rede wert, was sie bei dieser Großaktion, bei der Hunderte Wohnungen durchkämmt worden waren,
eingesammelt hatten. Ein gutes Dutzend Revolver und Pistolen, zwei, drei Gewehre. In jeder Schießbude auf dem Rummel gab es
mehr Waffen.
Doch in der Chefetage waren sie schon dabei, fleißig an der Legende vom kommunistischen Umsturzversuch zu stricken, dendie Polizei mit ihrem beherzten Einsatz verhindert habe. Seit den frühen Morgenstunden wurden die kommunistischen Büros nicht
nur am Bülowplatz, sondern in der ganzen Stadt nach Namenslisten durchsucht: Das preußische Innenministerium hatte die Maiunruhen
zum Anlass genommen, den Rotfrontkämpferbund zu
Weitere Kostenlose Bücher