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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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könnte Ihnen Material liefern!«
    »Keine schlechte Idee.«
    »Ich bin zwar erst einige Wochen hier, hab noch nicht viel gesehen. Aber ich habe mehr gesehen als Sie. Denn ... Sie haben überhaupt nichts gesehen!«
    »Erzählen Sie, was Sie gesehen haben. Vielleicht reicht's für den Artikel!«
    Wir waren allein im Salon: der Kunde und ich. Ich band ihm den Kittel um, vorschriftsmäßig, fachkundig, manipulierte mit sicheren Friseurhänden an den Verstellstangen des Friseursessels herum, brachte die Rückenlehne und somit den mir ausgelieferten Körper in die richtige Lage, rückte Kopf- und Fußstütze zurecht, zeigte dem Kunden, daß ich was konnte.
    Zuerst die heißen Kompressen! Das ist sehr wichtig. Damit der Bart weich wird. Einseifen allein tut's nicht. Ich ließ mir Zeit.
    Der Kunde lag bequem, hatte die Augen halb geschlos sen. Ich überlegte, was ich ihm erzählen sollte. Was ich gesehen hatte? Ja. Das würde ich ihm erzählen. Aber spä ter. Nicht jetzt. Zuerst mußte ich über Geschichte sprechen. Denn was ist dieses Land ohne seine Geschichte?
    Ich sprach zuerst über Geschichte. Ich fing mit unserem Erzvater Abraham an und seinem Weib Sara, erklärte meinem Kunden, daß wir, die Juden, nie behauptet hätten, daß Sara, unsere Erzmutter, das Weib des Abrahams, vom lieben Gott persönlich geschwängert wurde, so wie Maria, die Mutter des Herrn Jesus Christus ... obwohl wir zu dieser Behauptung berechtigt wären: denn diese Behauptung, die wir nicht gemacht haben, wäre ganz logisch gewesen, läge sozusagen auf der Hand, denn Saras Schwangerschaft war ein Wunder, denn Sara war schon betagt oder sehr alt oder eine Grei sin, während Maria, die Mutter des Herrn Jesus Christus, noch jung war und auf ganz normale Weise hätte schwanger werden können ... nämlich: von einem ganz normalen männlichen Schwanz, von einem Schwanz zwischen zwei Beinen.
    »Sehen Sie«, sagte ich zu meinem Kunden. »Wir hät ten ja behaupten können, daß Gott die Sara persönlich geschwängert hätte! Dann wären wir, die Juden, alle Gottes persönliche Nachkommen gewesen!«
    Ich grinste den Kunden triumphierend an und sagte: »Sowas behaupten wir aber nicht! Denn sowas wäre eine unverschämte Anmaßung gewesen!«
    Nach den Kompressen fing ich zu pinseln an, seifte mit Eifer, gab mir sichtlich Mühe. Ich sprach über die Nachkommen Saras und Abrahams. Ich sprach über Ägypten, sprach über fette und magere Jahre, sprach über Sklaverei, erzählte von einem rudernden Baby, im Schilf, das später zum Volksführer wurde, erzählte vom brennenden Dornbusch, erzählte vom Auszug aus Ägypten, dem Auszug der Kinder Israels, erzählte von Manna und von der Scheißerei - denn Manna ist ein Abführmittel - erzählte vom Berge Sinai, von Moses,der kein ruderndes Baby mehr war, sondern einen Bart hatte, erzählte von den zehn Geboten, erzählte von 40 langen Jahren, erzählte vom goldenen Kalb, erzählte vom Land der Verheißung.
    Ich weiß nicht, wie lange ich meinen Kunden einge seift hatte, aber als ich bei unserem ersten König angelangt war, war der Seifenschaum hart wie Zement; ich mußte ihn wohl oder übel von den Backen meines Kun den abkratzen, und fing dann gleich aufs neue zu seifen an, frische Seife, frischen Seifenschaum.
    Erzählte von vielen Königen, von der Teilung des Großen Reiches, von siegreichen und geschlagenen Feinden, von Okkupation und Befreiung, von vielen kleinen und größeren Kriegen, sprach über die Zer störung des Ersten Tempels, sprach über Babylonisches Exil, sprach über Sehnsucht und Heimweh, zitierte: »Wenn ich deiner vergesse, verdorre meine Rechte. Es klebe meine Zunge an meinem Gaumen, wenn ich dei ner nicht gedenke, Jerusalem« ... sprach über Talmud und Rückkehr, sprach über den Zweiten Tempel. Als ich bei den Römern angelangt war, mußte ich den hartgewordenen Seifenschaum erneut abkratzen, mußte wieder einseifen. Erst bei der Zerstörung des Zweiten Tempels gelang mir die richtige Prozedur. Ich rasierte meinen Kunden hastig, wusch sein Gesicht, benützte Alaunwasser und Eau de Cologne, massierte, trocknete ab, puderte ein bißchen, staubte ab, sagte: »So! Will sich der Herr auch die Haare schneiden lassen?«
    Natürlich wollte der Kunde das auch. Beim Haareschneiden sprach ich übers Exil, erzählte vom Fluch des Herrn Jesus, sagte: »Das hat er nicht gemeint ... wenigstens nicht so ... aber gesagt hat er's trotzdem«, sagte: »Ihr Töchter Jerusalems, weinet nicht über mich, sondern

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