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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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»Rechtfertigungssuada« bezeichnet wird.
    Hinzu kommt, dass dieser Täter Max Schulz kein ausgewiesener Antisemit ist. Er hat generell nichts gegen Juden, erlernt sein ehrbares Handwerk im Frisiersalon eines jüdischen Meisters, ist mit dessen Sohnbefreundet, kennt jüdische Sitten und Bräuche. Zum Täter wird er, weil die Zeitläufte so sind, wie sie sind. Da kommt einer und gibt ihm einen Stock und diesen schwingt er eifrig, er tötet so beiläufig, wie er schläft, trinkt, raucht. Und als ihm der Stock wieder aus der Hand genommen wird, mutiert er problemlos zum (jüdischen) Friseur, der mit seiner Hände Arbeit zu Wohlstand kommt.
    Erinnern wir uns: In den Jahren der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland, insbesondere während des Krieges und unmittelbar danach, vollzogen Hunderttausende - vielleicht sogar Millionen - ehrbarer deutscher Bürger solche Wandlungen. Sie wurden zu Plünderern, Schändern, Mördern und hatten keine Schwierigkeit damit, als alles vorbei war, wieder in ihre bürgerlichen Existenzen zurückzukehren; so, als sei nichts geschehen.
    Wie Friedrich Torberg 1977 in einer Besprechung zu »Der Nazi & der Friseur« schrieb, diente »ihnen als Schutzmechanismus neben den Lebenslügen: Ich habe davon nichts gewusst und Was hätte ich denn tun sollen, ich wäre doch gleich ins KZ gekommen, wegen Befehlsverweigerung erschossen worden ... auch ein grotesker Talmi-Philosemitismus in Nachkriegsdeutsch land, dessen Auswirkungen bis in die siebziger Jahre reichten.«
    Diese Meinung zum Talmi-Philosemitismus teilt Hilsenrath , der in einer Fernsehdiskussion 1978 erklärte, dass die lange Jahre in der BRD gepflegte geheuchelte Zuneigung zum Judentum nur eine andere Art des Antisemitismus sei.
    Gegen die Diskursregeln, die dieser Philosemitismus als Reflex des schlechten Gewissens hervorgebracht hat, verstößt der Autor nachhaltig. Hinzu kommt, dass er in seinem Roman Erklärungen für das Geschehene weitestgehend verweigert und sich auch nicht auf eine Sinnsuche begibt, die verzweifelt versucht, das Sinnlose sinnhaltig zum machen. Dies ist der entscheidende Unterschied zu den Werken anderer Shoa-Autoren - ich nenne als Beispiele Jurek Becker, Ruth Klüger, George Tabori, Imre Kertesz - und macht das Werk Hilsenraths solitär. Er begibt sich damit in die Gefahr, dass sein Buch abgelehnt wird. Die Leser reagieren, da ihre Erwartungshaltung nicht erfüllt wird, »gekränkt«. Die ses »Kränkungsangebot« führt aber zu einem nachhalti gen Erinnern des Romans »Der Nazi & der Friseur«, und somit auch zu einem nachhaltigen Erinnern der Shoa. Damit wird Hilsenrath in so brutaler Direktheit dem Erinnerungsgebot gerecht, wie dies in keinem zweiten Werk in deutscher Sprache gelingt.
    Ist dieser Roman autobiografisch? Nein. Aber er ist autobiografisch beglaubigt.
    Helmut Braun

Editorische Notiz
    Der Roman »Der Nazi & der Friseur« wurde von Edgar Hilsenrath 1968/69 in München und New York in deut scher Sprache für den New Yorker Verlag Doubleday & Company geschrieben. Die Übersetzung ins Englische erfolgte durch Andrew White. »The Nazi & The Barber « erschien 1971 erstmalig. Es folgten die Ausgaben in Italienisch (Mondadori, Mailand 1973), in Französisch (Fayard, Paris 1974), als englischsprachiges Taschenbuch (Manor Books, New York 1974), in England (W. H. Allen, London 1975) und erneut als Taschenbuch ohne inhaltliche Veränderung unter neuem Titel »The Nazi Who Lived As A Jew« (Manor Books, New York 1977).
    1977 veröffentlichte der Literarische Verlag Helmut Braun, Köln, den Roman erstmalig in deutscher Sprache. Für diese Ausgabe änderte Edgar Hilsenrath das Schlusskapitel. Eine Sonderausgabe erschien im Guhl Verlag, Berlin 1978; die Taschenbuchausgabe bei Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/Main 1979 und eine broschierte Ausgabe in der Serie Piper, München 1990. Zudem wurde der Roman seit 1977 in zwölf wei teren Auslandsausgaben publiziert.
    Die Neuveröffentlichung im Rahmen der Gesamt werkausgabe folgt - unter Berichtigung einiger Setzfeh ler - unverändert der ersten deutschen Ausgabe von 1977 – Das deutsche Originalmanuskript, die beiden unter schiedlichen Fassungen des Schlusskapitels sowie alle deutsch- und fremdsprachigen Buchausgaben befinden sich in der Akademie der Künste in Berlin. Ab 2006 werden sie dort im Edgar-Hihenrath-Archiv der Öffentlichkeit zugänglich sein.
 Edgar Hilsenrath
    »Edgar Hilsenrath ist neben Jurek Becker und Peter Weiss - der große

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