Der Nazi & der Friseur
beschreiben. Ich würde sagen ... 'n bißchen triefend ... auch immer leicht gerötet von einem chronischen Schnupfen. Aber nicht krumm. Seine Nase war weder lang noch krumm. Sie war normal. An sich normal. Er hatte auch keine Plattfüße.
Haare? Ob er Haare hatte? Der Herr Friseur Chaim Finkelstein? Nein. Haare hat er nicht gehabt. Wenigstens nicht auf dem Kopf. Aber die hat er gar nichtgebraucht. Denn Chaim Finkelstein, das winzige Männchen, hatte ausdrucksvolle Augen. Und wer diese Augen sah, der nahm ihm die Glatze nicht übel. Und auch nicht die leicht gerötete Nase, die immer ein bißchen triefte, und auch nicht die Winzigkeit seiner Gestalt. Groß waren diese Augen und klar und gütig und weise. Aus Chaim Finkelsteins Augen leuchteten die Buchstaben der Bibel und ein Herz, das seine Mitmenschen verstand.
Ja. Das war Chaim Finkelstein, der jüdische Friseur aus Wieshalle.
Am 23. Mai 1907 fand im Hause Finkelstein ein ungeheures Ereignis statt: Die Beschneidung des Itzig Finkelstein.
Ich nehme an, daß Sie wissen, was eine Beschneidung ist und daß Sie, wenn Sie Jude sind, Ihr eigenes verstümmeltes Glied nicht nur betrachtet, sozusagen begutachtet, sondern sich auch zuweilen Gedanken über die symbolische Ursache der fehlenden Vorhaut gemacht haben. Habe ich recht?
Die Beschneidung ist ein Zeichen des Bundes zwischen dem Herrn und dem Volk Israel und wird als solche auch Brith Mila genannt. Als fleißiger Leser des Lexikons habe ich festgestellt, daß die Beschneidung der jüdischen Knäblein eine Art symbolischer Kastra tion ist, ein Wahrzeichen sozusagen, das folgendes ver sinnbildlichen soll: die Veredelung des Menschen, die Zügelung seiner tierischen Triebe und Leidenschaften ... eine symbolische Handlung, die ich als Massenmörder gar nicht genug loben kann.
Als Itzig Finkelstein beschnitten wurde, herrschte Feststimmung im Hause Finkelstein. Der Friseursalon ›Der Herr von Welt‹ war geschlossen. Das Dienst mädchen der Finkelsteins, die dürre Hilda, bat meineMutter, ein bißchen zu helfen, da sie beide Hände voll zu tun hatte, und meine Mutter, die für gute Nachbarschaft war, ging zu den Finkelsteins rüber und half der dürren Hilda in der Küche. Da wurden Honigkuchen gebacken und Apfelstrudel, süße Rosinen- und Mandelfladen und allerlei andere Leckerbissen. Auch mit dem Schnaps wurde nicht gegeizt, und meine Mutter und die dürre Hilda, die an sich nichts gegen Schnaps einzuwenden hatten, tranken auf das Wohl der Juden und auf das Wohl von Itzig Finkelstein.
Meine Mutter stieß zwar in der Küche auf das Wohl der Juden an und auf das Wohl von Itzig Finkelstein, weil sie gerne Schnaps trank und weil's ihr Spaß machte, aber sie hatte keine blasse Ahnung, warum so viel Gäste ins Haus strömten und was für ein seltsames Fest das war, das die Finkelsteins feierten, und als sie schließlich die dürre Hilda ein bißchen ausfragte, lachte die dürre Hilda und sagte dann: »Was soll schon los sein? Unser kleiner Itzig ist heute acht Tage alt. Deshalb wird ihm heute das Schwänzchen abgeschnitten! Das ist so bei den Juden. Immer am achten Tag nach der Geburt.«
»Das ist ja furchtbar«, sagte meine Mutter. »Da wird der Kleine ja nicht mehr pinkeln können ... und später auch nicht mehr ficken.«
»Gar nicht so furchtbar«, sagte die dürre Hilda. »Das Schwänzchen wächst ja wieder nach.« Und dann erklärte die dürre Hilda meiner Mutter, wie das vor sich ging: »Hör mal, Minna«, sagte die dürre Hilda, »das ist nämlich so: Da ist so ein Kerl, den nennen sie den Mohel. Der hat ein langes Messer, das an beiden Seiten geschlif fen ist. Damit schneidet er dem kleinen Jungen das Schwänzchen ab. Dann murmelt er ein paar Zaubersprüche, und der abgeschnittene Schwanz wächst dann wieder nach ... weder zu lang noch zu kurz ... geradedie richtige Länge ... dafür besonders dick und kräftig. Deshalb der Kindersegen bei den Juden.«
»Das ist ja allerhand«, sagte meine Mutter. »Sowas hab' ich noch nicht gehört.«
»Zum Zeichen des Bundes zwischen dem Volk Israel und dem Herrn«, sagte die dürre Hilda, »wenigstens hat das der Herr Friseur Chaim Finkelstein unlängst gesagt. Auch der Herr Rabbiner, der neulich bei uns war, hat so was Ähnliches behauptet. Der sprach sogar von einem bestimmten Propheten ... der Kerl hieß, glaub' ich, Jeremia ... und der hat angeblich zu den Juden gesagt: ›Beschneidet euch für Gott und tut ab die Vorhaut eures Herzens.‹«
»Bloß die Vorhaut?«
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