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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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unserer. Ganz plötzlich. Die Wagenko lonne stand still. Lag was auf dem Waldweg. Ein gefäll ter Baum. Und dann knallte es. Auch ganz plötzlich. Und wie das knallte! Aus dem Wald. Die knallten. Die Partisanen. Denn das waren die Partisanen! Hatten bloß alte Gewehre. Aber schossen gut! Ja, das konnten die.
    Ich hockte neben Hans Müller, dem Lagerkommandanten. Und der hockte neben mir. Wir wurden nicht getroffen. Aber die anderen, die standen lachend im offenen LKW ... standen ohne Deckung ... hörten plötzlich zu lachen auf ... sackten zusammen."
    »Sie hätten mal sehen sollen«, sagte Max Schulz, »wie schnell ich meine Hosen hochzog. Noch nie in meinem Leben hab ich meine Hosen so schnell hochgezogen. Auch der Lagerkommandant Hans Müller. Der war sogar noch schneller als ich. Im Nu hatte der seine Hosen hoch, sprang nach vorn ... in den blutigen Haufen der niedergemähten Kameraden ... griff nach einem Gewehr und jagte eine Salve nach der anderen in den Wald hinein.
    Ich tat dasselbe. Machte's ihm nach. Schießen konnte ich. Und die Bauchschmerzen waren weg. Das hätten Sie mal sehen sollen!«
    »Was hätt' ich sehen sollen?« fragte Frau Holle.
    »Wie wir den Wald verzauberten«, sagte Max Schulz. »Denn das war unser letztes Gefecht. Als wir unsere letzte Patrone verschossen hatten, wurde es ganz still. Der Wald schwieg. Und die Front schwieg. Und die Partisanen schwiegen. Sogar der Wind legte sich, und es fiel kein Schnee mehr.
    ›Los, weg!‹, schrie der Lagerkommandant Hans Mül ler.
    Und ich sagte bloß: ›Ja, verdammt nochmal!‹
    Wir schmissen unsere Gewehre in den Haufen der Verwundeten und Toten. Hans Müller, der Lagerkommandant, ergriff einen der Kartons mit den Goldzähnen, hob ihn hoch und warf ihn mit einem kräftigen Ruck ins Gebüsch. Dann sprangen wir runter, rannten los und verschwanden im Wald.«
    »Was war eigentlich mit Günter? War Günter gleich tot?«
    »Das weiß ich nicht«, sagte Max Schulz. »Günter lag zwischen den anderen. Ich sah ihn erst am nächsten Tag wieder.«
    »Erzählen Sie mir das ... wie Sie ihn wiedersahen.«
    »Ja«, sagte Max Schulz. »Später."
    »Und wie war das mit dem Wald? War der wirklich verzaubert?«
    Max Schulz nickte. »Der Wald schwieg. Aber als wir losrannten ... da fing der Wald zu lachen an.«
    »Ich glaube, Sie spinnen«, sagte Frau Holle. »Ein Wald kann doch nicht lachen.«
    »Doch«, sagte Max Schulz. »Das kann der Wald. Er wurde auch wieder lebendig. Die Front begann wieder zu toben. Und die Partisanen kamen aus ihrem Versteck hervor und feuerten hinter uns her. Und die Wolken öffneten sich. Der Wind heulte in den Bäumen und peitschte uns frischen Schnee ins Gesicht. Wir rannten mit klebrigen Unterhosen, rannten wie Untermenschen.
    Ich verlor den Lagerkommandanten Hans Müller aus den Augen. Wie lange ich im Wald herumirrte, weiß ich nicht mehr. Ein paar Stunden vielleicht. Später fand ich einen verlassenen Bunker, kletterte hinein und verbrachte dort die Nacht.«
    »Die Nacht?« fragte Frau Holle.
    »Ja, die Nacht«, sagte Max Schulz.
    »Ich schlief einige Stunden, wurde im Schlaf von der Front überrollt, merkte das gar nicht, wachte dann auf, hatte Angst, wunderte mich, sagte zu mir: ›Was soll das?‹
    Ich kletterte aus dem Bunker heraus. Es war noch stockdunkel. Ich bürstete meine Uniform mit den Fingerspitzen ab, knallte die Hacken zusammen und brüllte den Himmel an.
    Ich brüllte: ›Es werde Licht!‹
    Ich brüllte: ›Es werde Licht!‹
    Ich brüllte: ›Es werde Licht!‹
    Aber nichts geschah. Jahrelang hatte ich in aller Früh den Himmel angebrüllt. Und der Himmel hatte immergehorcht. Und jetzt ... auf einmal ... ging das nicht mehr. Der Himmel gehorchte nicht.
    Ich zündete ein Streichholz an und schaute auf meine Uhr. Sie war stehengeblieben.
    Erst etwas später begann es zu dämmern.«
    »Sie sind doch ein Spinner«, sagte Frau Holle. »Eigent lich hätt' ich mir das gleich denken müssen. Bei Ihnen weiß man nicht, was wahr ist, und was nicht wahr ist. -Und was war mit Günter?«
    »Ach ja, Günter ...« sagte Max Schulz. - »Ich ging später, als es heller wurde, zu der Stelle des Überfalls zurück. Die Partisanen waren mit den LKWs davongefahren. Sie hatten alle erwischt, außer uns beiden - den Lagerkommandanten Hans Müller und mich - hatten die Toten und Verwundeten aus den LKWs herausgeworfen, und die lagen in wirrem Durcheinander auf dem Waldweg. Die Partisanen hatten natürlich dann auch die Verwundeten

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