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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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aufgeladen.
    Na ja, so war das. Ich erhielt dann Befehl, die Gefangenen zu erschießen. Wie gesagt: Viele waren es nicht mehr. Ich hatte sie gezählt: 89. Die letzten Überleben den. 89? Was ist das schon! Die kann ein einziger Mann erledigen.
    - Aber ich hatte Bauchschmerzen. Und ich ging zu meinem Untersturmführer und sagte ihm das. Aber der wollte davon nichts hören.«
    Max Schulz stieß dicke Rauchwolken vor sich hin.
    »Na ja«, sagte Max Schulz. »Ich erschoß sie eben mit Bauchschmerzen.«
    Max Schulz starrte Frau Holle an. »Als wir das Lager verließen«, sagte er langsam, »da fing es zu schneien an. Es war eine Zeitlang windstill, und die Schneeflocken fielen lautlos wie Vogelfedern vom Himmel. Wir fuhren durch den polnischen Wald in Richtung Deutschland. Und der Wald sah wie ein deutscher Märchenwald aus, mit einem stillen Himmel über den hohen Bäumen und Schneeflocken wie die Federn weißer Vögel. Genauso mußte der Wald aussehen, über dem Frau Holle die Federbetten ausschüttelt - die Frau Holle in Grimms Märchenbuch ... Grimms Märchenbuch ... das Lieblingsbuch des Itzig Finkelstein ... als Itzig Finkelstein ein kleiner Junge war ... das Märchenbuch ... aus dem er mir vorlas ... der Itzig Finkelstein ... das er so liebte ... sein Märchenbuch ... und das ein deutsches Märchenbuch war.
    Aber dann ... dann kam Wind auf. Und der deutsche Märchenwald verwandelte sich, schien im Schneegestö ber zu verschwinden, wurde wieder ein polnischer Wald. - Und die Front war ganz nah. Die saß hinter uns im Dickicht, kauerte irgendwo in der Nähe, saß dort im Wald hinter uns wie ein gottverdammter feuerspeiender Salamander, blieb aber nicht lange sitzen, kroch hinter uns her, kroch so schnell wie wir, obwohl wir fuhren und gar nicht krochen, deckte uns mit Feuerwerk ein.
    Ich stand neben Günter. Im letzten LKW. Und neben uns stand der Lagerkommandant Hans Müller, stand neben den Kartons mit den Goldzähnen, paßte auf die Goldzähne auf, schien keinem von uns mehr zu trauen, stand dort neben mir und neben Günter und starrte auf die Goldzähne.
    Wir froren. Wir hatten uns tief in unsere Mäntel ge hüllt. Ich hielt mich an Günter fest. Der LKW hatte niedrige Bordwände und kein Dach. Wir waren eingeschneit.
    Ich sagte zu Günter: ›Deutschland!‹
    Und Günter sagte: ›Ja. Deutschland!‹
    Und der Lagerkommandant Hans Müller sagte: ›Die Front kommt immer näher. Dieses verdammte Schneegestöber. Wenn wir doch nur schneller fahren könnten. - Und ich wette, meine Herren, daß die Kerle auf uns warten!‹
    ›Welche Kerle ?‹ wollte Günter wissen.
    ›Die Partisanen‹, sagte der Lagerkommandant Hans Müller. ›Am anderen Ende des Waldes.‹
    Und Günter sagte: ›Wo ist das eine Ende? Und wo ist das andere Ende? Dieser Wald hat doch kein Ende.‹
    ›Die Partisanen‹, sagte der Lagerkommandant Hans Müller ... ›die warten auf uns. Passen Sie auf. Vielleicht gar nicht am Ende des Waldes. Vielleicht schon vor dem Ende.‹
    ›Und wir fahren nach Deutschlands sagte ich. ›Zwi schen der Front und zwischen den Partisanen ... da fahren wir durch. Wir fahren eben durch. Oder nicht?‹
    ›Klar fahren wir durch‹, sagte der Lagerkommandant Hans Müller. ›Und wie!‹
    Ich kriegte wieder Bauchschmerzen. Diesmal war's nicht der Fall von Warschau. Diesmal waren's die Parti sanen. Die saßen überall. Und ich wußte: Wir fahren in eine Falle!
    Ich fragte nicht um Erlaubnis. Ich taumelte nach rückwärts, riegelte die Klapptür auf, ließ meine Hosen herunter, hockte mich hin, mit verzerrtem Gesicht, ließ meinen frierenden Hintern im Freien hängen, klammer te mich an der Bordwand fest, hatte den Kopf zwischen den Knien, bekleckste den Waldweg ... den verschneiten.
    Als mich der Lagerkommandant so sah, verzog auch er das Gesicht, wurde von mir angesteckt, taumelte ebenfalls nach rückwärts, riß die Hosen noch schneller runter als ich, hockte sich neben mich hin, sagte: ›So scheißen doch nur Untermenschen! ‹ sagte: ›Was ist denn das!‹ sagte: ›Aber doch nicht wir!‹ stöhnte vor Schmerzen, zog eine dunkle Spur hinter uns auf dem Waldweg, dem verschneiten, zog die Spur neben der meinen ...
    Die anderen ... die Kameraden ... die lachten bloß ... wandten die Köpfe nach uns um ... standen eingeschneit im offenen LKW ... standen dort wie die Sardinen ... standen ohne Deckung ... lachten ... machten Witze ... auch Günter.
    Plötzlich stoppte der erste LKW. Und auch die anderen stoppten. Auch

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