Der Nazi & der Friseur
wieder ab, merkte, daß ich im Kreise herumirrte, guckte nach dem Stand der Sonne, rechnete aus, wie man am besten westwärts ging, glaubte westwärts zu gehen ...
Gegen Mittag sah ich Rauch, sah eine Lichtung, pirschte vorsichtig näher, schnupperte wie ein Tier in der Luft.
Ich sah zuerst nur ein Dach ... ein schiefes Strohdach mit einem kurzen Schornstein aus gepreßtem Lehm. Schwarzer Rauch stieg aus dem Schornstein, kräuselte über dem Strohdach, verfing sich in den Baumwipfeln in der Nähe des Daches, löste sich bei neuen Windstößen und stieß himmelwärts. Ich folgte den Rauchschwaden mit meinen Blicken, guckte in den Himmel ohne zu wollen und erschrak. Denn der Himmel über dem Strohdach sah wie Eis aus. Blaues Eis mit einer ein gefrorenen gelben Sonne.«
»Blaues Eis hab ich noch nicht gesehen«, sagte Frau Holle. »Und auch keine Sonne, die eingefroren ist. -Aber erzählen Sie weiter!«
»Ja, und das war so«, sagte Max Schulz. »Erst, als ich nähertrat, sah ich den Rest der Kate ... ich meine ... das, was unter dem Dach war. Viel war's nicht. Eine niedrige Bauernkate aus gestampftem Lehm, Kuh- und Pferdemist, weißüberkalkt. Ställe sah ich nicht. Auch keine Scheune. Eben bloß eine Kate. Und die Kate hatte
schmale Fenster, angeschlagen vom Frost, Fenster mit Eisblumen.«
»Eisblumen?« fragte Frau Holle.
»Ja« sagte Max Schulz. »Eisblumen. Die blühen nur im Winter … besonders auf Fensterscheiben … und ganz besonders auf den Fensterscheiben von Veronjas Kate .«
»Veronja?«
»Ja« sagte Max Schulz. »Veronja!
Und das war so:
Plötzlich ging eines der Fenster anf. Ich sah ein
Gesicht. Das Gesicht eines Hutzelweibes . Ein uraltes Gesicht.«
»Wie alt?« fragte Frau Holle.
»Genau weiß ich das nicht«, sagte Max Schulz. »Aber das Hutzelweib war bestimmt oder mindestens zwei-mal so alt wie Sie.«
»Zweimal 49«, sagte Frau Holle ... »das sind 98.«
»Zweimal 59«, sagte Max Schulz. »das sind 118.«
Ja, so war das. Und das war so:
Das Fenster wurde schnell wieder zugeklappt. Eine
Zeitlang rührte sich nichts, und ich dachte schon Pech! Die Alte hat die Uniform gesehen. Sicher hat sie Angst!
Aber dann ging die Tür auf. Ganz langsam ging die auf. Und knarrte. Ganz komisch knarrte die Tür.«
»So wie bei Hänsel und Gretel«, sagte Frau Holle.
»Mich gruselt's richtig.«
»Mich hat's auch gegruselt«, sagte Maz Schulz.
»Da stand sie plötzlich auf der T ürschwelle , Eine uralte Frau. Eine, die ganz komisch grinste. So ein Grinsen hatte ich vorher noch nie gesehen.«
»Wie war das?« fragte Frau Holle.
»Die grinste wie ein Menschenfresser«, sagte Max Schulz. »Oder wie eine Menschenfresserin. Dachte unwillkürlich an einen Riesenkochtopf, in dem mein Hin-tern schwimmt ... rosarot ... fertig zum Anschneiden ... sah meine Froschaugen losgelöst in der Brühe schwimmen. Und meine Augen sahen ihr Gesicht: das grinsende Gesicht eines Hutzelweibes ... über den Kochtopf gebeugt.«
» Da sind Sie sicher gleich davongelaufen ...« sagte Frau Holle.
Max Schulz schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil! Wohin sollte ich denn rennen? Ich war hungrig und fror. Und im Wald lauerten die Partisanen. Und die Panzer der Roten Armee rollten nicht weit von hier auf der Straße nach Deutschland. Ich war einer von der SS … und zwar einer von denen, die die Sauarbeit gemacht hatten für die Pläneklempner der Neuen Ordnung ... das war ich ... Max Schulz ein Massenmörder aber einer auf der Flucht ... und noch dazu: hinter den feindlichen Linien. Die Kerle im Wald und die in den Panzern auf der Straße ... und all die anderen, die den Panzern folgten ... so oder so oder nur mit den Augen oder nur in Gedanken ... die hinter den Panzern standen und die Daumen drückten ... die von der anderen Seite ... die suchten mich, mich, Max Schulz den Massenmörder und warteten auf meinen Kopf. Und sicher - so dachte ich damals - auch auf meinen Schwanz, den sie abschneiden wollten ... so wie bei Günter ... und den anderen, die dort lagen ... um mich ganz zu entthronen ... auch nach meinem Tod.
Ich sah die Alte. Und ich sah Günter. So wie ich ihn zuletzt gesehen hatte. Und ich schlotterte vor Angst Und da sagte ich zu mir: ›Hier stehe ich und kann nicht anders!‹
Ich folgte der Alten ins Haus. Ich stotterte irgend etwas auf polnisch ... ein paar Worte, die ich gelernt hatte.
Aber die Alte lachte nur und sagte: ›Ich kann auch Deutsch!‹
Das Innere der Kate
Weitere Kostenlose Bücher