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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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sagte: »Außerdem ein Witwer. Und das ist noch verdächtiger.«
    Meine fünf Väter berieten sich noch eine Weile. Dann stellten sie das Gepäck meiner Mutter vor die Tür von Slavitzkis Friseurladen, bekreuzigten sich und machten sich aus dem Staube.
    »Schäbig« ... ich finde kein anderes Wort, um die Fri seurstube oder den Friseurladen Anton Slavitzkis zu beschreiben. Blinde Spiegel, zerkratzte Friseursessel mit aufgeplatzten Sitzen, aus denen die Holzwolle hervor quoll, das einzige Waschbecken gelb und fleckig, schadhafte Wände, rissiger Fußboden, schlechte Beleuchtung, alles dürftig, verstaubt, vernachlässigt. Hinter einem Vorhang befand sich eine Kochnische, gleich neben dem Notausgang, der in den Hinterhof führte, wo übrigens ein Klosett war. Der Friseur Chaim Finkelstein und sein bester Kunde, der Pelzhändler Abramowitz, nannten die Kundschaft Slavitzkis »Lumpenproletariat«.
    Slavitzkis Habseligkeiten waren in drei Kommoden verstaut, die nebeneinander, in Reih und Glied im Not ausgang standen. Slavitzki behauptete, daß er früher mal, als seine Frau noch lebte, eine eigene Wohnung gehabt hätte, aber das war schon lange her. Jetzt wohnte er im Friseurladen. »Wozu braucht ein Witwer eine Woh nung«, sagte Slavitzki zu meiner Mutter. »Ich stelle mir nachts ein Klappbett auf und falte es mir am Tage wieder zusammen. Verstehen Sie, Frau Schulz. So ist das.«
    »Kann ich verstehen«, sagte meine Mutter. »Aber wenn Sie wollen, daß ich und mein Max hierbleiben, dann muß sich das ändern. Dann brauchen wir nämlich eine Wohnung.«
    »Na schön«, sagte Slavitzki. »Mal sehen. Immer mit der Ruhe.«
    Können Sie sich vorstellen, wie solch ein Klappbett, in dem ein einsamer Witwer schläft, ganz unverhofft in ein bürgerliches und biederes Ehebett verwandelt wird, in dem nicht nur der magere Witwer, sondern auch eine fette Frau, die zwei Tonnen wiegt, obwohl sie magere Beine hat, also: zwei Personen von völlig verschiedenem Körperumfang, schlafen sollen?
    Slavitzki wollte sich gleich in der ersten Nacht an meine arme Mutter heranmachen. Aber meine Mutter hatte »ihre Regel« und wehrte sich mit mageren Beinen und fetten Händen. »Das schickt sich nicht«, sagte meine arme Mutter. »Ich habe ›meine Regel‹ Und das schickt sich nicht.«
    Aber davon wollte Slavitzki nichts wissen. Er versuchte es immer wieder, hatte das Gummiband losgebunden, stand nackt vor dem neuen Ehebett, zeigte sein Glied, machte meine arme Mutter ganz wirr, zankte mit ihr, kroch wieder unter die Bettdecke, feilschte, versuchte zu überzeugen, fing schließlich zu fluchen an, dann zu brüllen.
    Meine Mutter blieb standfest. So wahr mir Gott helfe! So war's. Was sich nicht schickt, schickt sich nicht. Ein Mensch muß Grundsätze haben.
    Als Slavitzki schließlich einsah, daß er verspielt hatte, kannte seine Wut keine Grenzen. Er stürzte wie ein Wilder aus dem neuen Ehebett, nackt, mit gerecktem Glied, Schaum auf den Lippen, Schweiß auf der flachen Stirn, verklebtem Haar ... und stillte Wut und Juckreiz an mir.
    Können Sie sich das Ausmaß des Verbrechens vorstellen? Ich, Max Schulz, gerade sieben Wochen alt, zukünftiger Massenmörder, zur Zeit aber unschuldig, lag wie ein Engel in meiner neuen Wiege, dem Wasch becken, in das Slavitzki aus Gewohnheit pinkelte, das jedoch ganz trocken war, denn meine Mutter hatte es ausgewischt, lag eingehüllt in warme Windeln ... und einem Deckchen, schlief friedlich, träumte von meinen Kollegen, den Engeln, träumte und lächelte ... wurde plötzlich aus dem Schlaf gerissen, hochgerissen ... wollte die Engel um Hilfe rufen, konnte aber nicht schreien, riß entsetzt die Augen auf, pisste vor Angst in die Windeln, verschluckte mich, bekam Erstickungsanfälle, kotzte Muttermilch auf Slavitzkis Hand, streckte Händchen und Beinchen aus, wollte meine Unschuld verteidigen, sah das gewaltige Glied Slavitzkis, dachte, es wäre ein riesiger Bandwurm, murmelte Stoßgebete, obwohl ich das Beten noch gar nicht gelernt hatte, woll te sterben, sehnte mich zurück in den dunklen, aber sicheren Schoß meiner Mutter ... und landete plötzlich bäuchlings auf dem Friseursessel, der vor dem Waschbecken stand.
    Meine Mutter stand neben dem Klappbett: zweitonnenschwer, frierend, Nachthemd verrutscht, tiefhängende Brüste ... stand auf ihren mageren, langen, haarlosen, fraulichen Storchbeinen, zitterte nicht, fror bloß,stand dort und guckte, guckte verschlafen mit gläsernem Blick, sah Slavitzki, sah den

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