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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Friseursessel, sah meine Samthaut ... arisch, schneeweiß, unschuldig ... leckte ihre Lippen, prüfte ihre Zähne, wollte beißen, überlegte sich's anders, suchte ein Zigarette, fand sie schließlich hinter dem rechten Ohr, nicht hinter dem linken, steckte sie in den Mund, zwischen die starken weißen Zähne, fand auch ein Streichholz, nicht hinter dem rechten Ohr, sondern hinter dem linken, hob das magere Bein, das linke, rieb das Streichholz gegen die Pantoffelsohle, sah die Flamme, zündete ihre Zigarette an, paffte, starrte auf den Mammutknochen des Friseurs Slavitzki, grinste verlegen, kicherte, weil Slavitzki schwitzte ... und zuckte dann plötzlich zusammen.
    Ich, Max Schulz, zukünftiger Massenmörder, zur Zeit noch unschuldig, stieß einen markerschütternden Schrei aus, bäumte mich auf, krallte mich in der Holz wolle des aufgeplatzten Friseursessels fest, reckte mein Köpfchen, das ganz rot angelaufen war, pisste wieder, ohne Absicht, wollte auch furzen, konnte aber nicht, weil die Öffnung verstopft war, fing zu zucken an, hörte die Englein singen, hörte ihr »Halleluja«, sah schwebende Harfen und Panflöten, sah kletternde Füßchen auf Tonleitern, sah verschiedene Schlüssel, Notenschlüssel und andere, sah auch den großen eiser nen Schlüssel meines Vorfahren »Hagen der Schlüssel träger«, hörte den Schlüssel knarren und knirschen, sah den goldenen Keuschheitsgürtel seiner Herrin, sah ihre Scham, hörte Kichern und Flüstern, sah die Sünde auf Tonleitern, sah einen Sündenpfuhl, sah keine Engel, sah keine Harfen und Panflöten, hörte den lieben Gott lachen, wollte beten und konnte nicht mehr...
    Ich weiß, was Sie sagen: »Max Schulz spinnt! Ein Alp traum! Nichts weiter!"
    Aber warum behaupten Sie das? Hat der liebe Gott nicht die Unschuld erfunden, damit sie zertreten wird ... hier auf Erden? Und werden die Schwachen und Wehrlosen nicht von den Starken überrumpelt, niedergeknüppelt, vergewaltigt, verhöhnt, in den Arsch gefickt ? Zu gewissen Zeiten sogar einfach beseitigt? Ist es nicht so? Und wenn es so ist ... warum behaupten Sie dann, daß Max Schulz spinnt?
3.
    Ich werde die Jahre bis zum Sommer 1914, meine frühe Kindheit, überspringen, weil ich da nichts Wesentliches zu berichten habe. Zu erwähnen wäre nur der Große Krieg. Der kam gerade zur rechten Zeit, um vielen braven Leuten in der Goethe- und Schillerstraße ein bißchen Abwechslung zu bringen.
    Können Sie sich noch daran erinnern? Man nannte ihn den Ersten Weltkrieg! Was mich betrifft, ich war schon sieben, ein großer Junge, wußte so manches, was viele Erwachsene nicht wissen, hatte Froschaugen von unbestimmter Farbe, die eine Menge sahen, auch Dinge, die sie nicht sehen sollten. Wir waren in eine Kellerwohnung umgezogen, unter Slavitzkis Friseurladen, eine Behausung voller Ratten. Von hier ... aus dem Blickwinkel des Kellerfensters ... sah der Krieg lustig aus. Tagelang zogen lange Kolonnen vorbei. Marschmusik dröhnte in mein Kinderzimmer. Ich konnte von meinem Kellerfenster schwere Geschütze von unten sehen, auch Menschen und Tiere, begeisterte mich für Pferdehufe, freute mich, wenn sie vor dem Fenster tänzelten, war erstaunt über den Gleichschritt der Solda tenbeine, hatte ja nicht gewußt, daß es so viele Beine auf der Welt gab. Besonders gut gefielen mir die forschen Stiefel der Offiziere. Die waren blank und schwarz, knirschten auf dem Straßenpflaster, kümmerten sich nicht um Glasscherben, lachten das Pflaster aus, hattenhochmütige Nasen, blinzelten mir zu und erfüllten mich mit geheimen Wünschen.
    Mein Stiefvater verschwand eine Zeitlang und ließ nur ein großes Schild an der Tür des Friseurladens zurück: Geschlossen!
    Während seiner Abwesenheit ging es lustig in unse rem Keller zu. Meine Mutter hatte oft Besuch: Soldaten, Urlauber nehme ich an, nette Burschen, die mir oft was zusteckten. Anfangs kamen sie vereinzelt, dann in ganzen Rudeln. Ich mußte Wache stehen ... vor der Schlafzimmertür ... oder im Wartezimmer, wie jetzt unser Wohnzimmer hieß, Zettelchen mit Nummern an die Schlange stehenden Leute verteilen. Ich erteilte auch Auskünfte, erzählte den neuen, die meine Mutter noch nicht gesehen hatten, daß sie lange, dünne Storchbeine hatte, aber dafür einen fetten Hintern, daß sie zwei Ton nen wog, ein freundliches Wesen und sogar Sinn für Kinderspiele hatte, sogar bellen konnte wie Satan, der Hund von nebenan, daß sie auf allen Vieren kriechen und sich im Kreise drehen

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