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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur
Autoren: Edgar Hilsenrath
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konnte.
    Interessiert Sie der Erste Weltkrieg in der Goethe- und Schillerstraße? Soll ich Ihnen mal erzählen, wie wir Krieg spielten, die Kinder der Goethestraße gegen die Kinder der Schillerstraße? Oder von dem neuen Grammophon im Schlafzimmer meiner armen Mutter, mit so einem Ding, das wie ein Trichter aussah und das einen Höllenlärm machte, so daß die Ratten in meinen Fallen ganz wild wurden? Aber ich nehme an, daß Sie das nicht interessiert.
    Eines Tages kam mein Stiefvater aus dem Krieg zurück ... obwohl der Krieg noch gar nicht zu Ende war ... nahm das Schild vor der Ladentür wieder weg, hängte ein neues dran mit der Aufschrift: ›Der Laden ist wieder eröffnet!‹ - verjagte die Urlauber aus dem Schlafzimmer meiner Mutter, auch die im Wartezim-mer, das jetzt wieder Wohnzimmer hieß, zertrümmerte das Grammophon, nannte meine arme Mutter eine Nutte, fluchte von früh bis abends, verprügelte sie, betrank sich ... und dann ... dann fing das alte Leben wieder an, wurde einfach fortgesetzt, so wie früher, bevor Slavitzki in den Krieg gezogen war.
    Die jüdische Gemeinde von Wieshalle zählte 99 Seelen. Wenn man bedenkt, daß unsere Stadt Wieshalle eine Stadt von 33099 Einwohnern war, dann muß man schon sagen: Es waren ihrer nicht viele. Aber da die meisten Juden in der Goethe- und Schillerstraße wohnten, pflegte mein Stiefvater zu sagen: »Minna, diese ver dammte Stadt ist vollkommen verjudet.«
    Darf ich Ihnen nun folgendes Gespräch schildern, das eines Tages beim Mittagessen zwischen meiner Mutter, der Minna Schulz, die wegen Slavitzkis Perver sitäten aufrecht stand, weil sie nicht sitzen konnte, und meinem Stiefvater stattfand ... meinem Stiefvater, der mürrisch auf seinem Stammplatz saß, schon ein wenig besoffen, im verfärbten Turnhemd und Unterhose, unter der sein schlaffes Geschlechtsglied hervorragte.
    »Wenn das so weitergeht, Minna«, sagte Slavitzki, »dann können wir einpacken. Diese Stadt ist vollkommen verjudet. Und wo lassen sich die Juden die Haare schneiden? Beim Chaim Finkelstein. Weil das auch ein Jude ist. Ist doch klar?« Meine arme Mutter schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht, Anton«, sagte sie. »Das stimmt doch nicht. Der Hausmeister hat mir gesagt: 99 Juden. Das hat er gesagt. 90 von ihnen wohnen in dieser Gegend. 53 in der Goethestraße und 37 in der Schillerstraße. Ne ganze Menge. Aber auch nicht zuviel. Rechne mal nach. Wieviel Häuser sind in der Goethestraße und wieviel in der Schillerstraße? Und wieviele Wohnungen? Ich sage dir, Anton: In dieser Gegend wohnenmehr Christen als Juden. - Na also, Anton! Und wo las sen sich die Christen die Haare schneiden? Beim Chaim Finkelstein!«
    »Dann hat er sie verhext«, sagte Slavitzki. »Sonst wä ren die dort keine Stammkunden! Sonst kämen die zu mir!«
    Meine arme Mutter schüttelte wieder den fetten Kopf. »Das glaub ich nicht, Anton. Denn sonst würde der katholische Schuster Hans Baumeister von der nächsten Straßenecke nicht so'n Bombengeschäft machen ... trotz der jüdischen Konkurrenz von vis-à-vis. Die Kunden in der Goethestraße und in der Schillerstraße lassen sich nicht von den Juden verhexen. Die erwarten bloß für ihr gutes Geld ... anständige Bedienung.«
    »Und was soll das heißen?« fragte Slavitzki lauernd.
    »Das soll heißen«, sagte meine Mutter langsam ... »daß der Chaim Finkelstein ein besseres Geschäft macht als du ... weil er ein besserer Friseur ist! Der pin kelt auch nicht ins Waschbecken! Und der schneidet auch keine Treppen!«
    Als Junge schlug ich seltsame Purzelbäume. Ich konnte auch Radschlagen, verstand es, meine Glieder zu verren ken, machte Handstand, Kopfstand, Spagat, konnte an meiner großen Zehe lutschen, zog Grimassen, lachte oft ohne Grund, stotterte, warf Steinchen auf kleine Mädchen, trat Jungens, die schwächer waren als ich, in den Hintern, schlug Fensterscheiben ein, kletterte auf Dächer, pinkelte von Dächern auf die Straße und so fort.
    Einmal sagte mein Stiefvater zu meiner Mutter: »Weißt du, Minna, ich glaube, bei dem Jungen ist 'ne Schraube locker.« Meine Mutter sagte: »Weißt du, Anton. Beim ersten Mal ist es passiert.«
    »Wie meinst du das?« sagte mein Stiefvater.
    »Dein Schwanz war ganz einfach zu groß«, sagtemeine Mutter, »und zu lang. Der stieß an seinen Hirnkasten an. Oder an sein Dach. Und was entstand: ein Dachschaden!«
    »Ein Dachschaden«, sagte Slavitzki.
    »Ja, Anton«, sagte meine Mutter ernst. »Ein Dachschaden.«
    Mein
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