Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
Vom Netzwerk:
kommst du auf solche Gedanken?«
    Er hob den Kopf. »Du liest
doch Bücher«, sagte er. »In Büchern stehen Geschichten, und manche davon sind
so böse wie die Personen, von denen sie erzählen. Wir waren einmal ein Teil
solch einer Geschichte, bevor wir in die Verbannung gingen. Jetzt gehören wir
nirgends mehr hin. Unsere Geschichte hat keinen Anfang und kein Ende mehr.«
    Sallie schwirrte der Kopf.
»Wovon redest du?«
    Er hockte sich hin und klaubte
das Bratenbrot aus dem Schmutz. »Der König und die Königin. Sie waren Freunde,
bevor der Drache starb. Und dann war es vorbei. Sie begannen sich zu hassen und
miteinander zu kämpfen. Sie wollten wissen, wer der Stärkere ist, wer mehr
Macht besitzt und wer bestimmen darf, was geschieht.« Er rieb mit seinem zerlumpten
Ärmel über das Brot. »Wir anderen waren zwischen den beiden gefangen, wie
Getreidekörner zwischen Mühlsteinen, wie Ratten zwischen den Zähnen einer
Katze, wie – wie dieses Stück Braten in meinem Mund.« Er biss in das Brot und
zerrte mit den Zähnen daran, kaute und schluckte.
    Sallie lauschte fasziniert.
»Aber die Königin war doch gut«, sagte sie. »Sie wollte, dass es allen gut geht
und dass der böse Zauberer die Menschen und Geschöpfe der Welt nicht länger
knechtet und tyrannisiert.«
    Redzep schwieg lange. Dann
holte er seufzend Luft. »Weißt du«, sagte er, »wahrscheinlich war es so. Aber
irgendwie hat es sich nicht so angefühlt, während wir kleinen Geschöpfe zwischen
den beiden Großen zerrieben wurden.«
    »Ich dachte immer, das alles
wäre vor langer, langer Zeit geschehen. Aber du sprichst davon, als hättest du
es selbst am eigenen Leib erlebt.«
    Redzep zog unbehaglich die
Schultern hoch. »Ja«, sagte er gedehnt. »Du hast natürlich recht. Das ist alles
schon lange her. Nein, noch viel länger als lange. Mein Volk erzählt sich diese
Geschichte jeden Tag und jede Nacht. Wir sitzen im Dunklen und Kalten und erzählen,
wie der König und die Königin sich bekriegten und dass damit das Unglück
begann. Vielleicht stimmt es auch gar nicht. Vielleicht haben wir es nur
geträumt, und dies hier ist alles, was es an Welt gibt und jemals gegeben hat.«
Er schniefte kurz und trocken.
    Sallie stützte das Kinn in die
Hand. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte sie nachdenklich. »Ich lebe in keiner
Geschichte. Ich bin hier, genau wie du, und dies ist die Wirklichkeit.« Sie hob
ihre verletzte Hand. »Schau, Redzep. Das ist doch keine Geschichte. Das hat
ganz wirklich wehgetan und geblutet, und Korben, der Apotheker, hat es genäht,
mit echtem Garn und einer spitzen Nadel.«
    Der Junge spuckte aus. »Der
Verräter Korben«, sagte er bitter. »Der schwarze Vogel hat uns alle auf dem
Gewissen.« Er schnüffelte. »Ich dachte, er hätte sich aus der Schlinge ziehen
können, geschickt, wie er ist. Also muss er auch hier ausharren, bis die Zeit
aufhört und alle Geschichten enden. Ich bin nicht sicher, ob ich erfreut
darüber sein soll, das Dunkel mit ihm zu teilen.«
    Sallie starrte ihn an. Dass
Redzep in Rätseln sprach, war sie inzwischen gewöhnt. Aber aus seinen Worten
klang blanker, bitterer Hass, den sie nicht verstand.
    »Ich finde ihn unheimlich«,
sagte sie. Das waren nicht die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, aber
die waren auch viel zu kraus und zu unfertig, um sie aussprechen zu können.
    Redzep sprang auf die Füße.
»Ich mag nicht über den Verräter reden. Komm, Sallie, meine Königin. Ich zeige
dir jetzt endlich mein Reich.« Er nahm ihre Hand und zog sie hoch. Sallie
fühlte erstaunt seinen kräftigen, festen Griff. So zerbrechlich, wie der dürre
Junge wirkte, war er wohl doch nicht.
    »Warte«, sagte sie und bückte
sich, um die Krümel und Reste aus dem Tuch zu schütteln.
    Redzep kam ihr zuvor und
schnappte danach. »Nicht«, sagte er vorwurfsvoll und faltete das Tuch sorgfältig
so zusammen, dass alle kleinen Krümelchen und Fetzchen darin geborgen waren. Er
steckte es ein.
    Sallie nahm ihr Buch und die
Kerze und sah ihn erwartungsvoll an.
    Redzep wies mit einer
linkischen Verbeugung ins Dunkle. »Dort entlang, wenn ich bitten darf.«
    Der Gang führte leicht, aber
spürbar abwärts. Sallie blickte mit Sorge auf ihre heruntergebrannte Kerze. Es
wäre klug gewesen, Imer noch um eine zweite zu bitten.
    »Redzep«, rief sie, »Ich
fürchte, mein Licht reicht nicht aus, um mit dir zu kommen. Ich finde sonst meinen
Rückweg nicht mehr.«
    Der Junge drehte den Kopf,
ohne anzuhalten. »Lösche das Licht. Du

Weitere Kostenlose Bücher