Der Nebelkönig (German Edition)
brauchst es genauso wenig wie ich,
Sallie.«
Ohne Licht hier in der
finsteren Tiefe? Und es ging weiter hinab, immer weiter.
Kurz entschlossen stapfte
Sallie hinter Redzep her, die schrumpfende Kerze, deren Wachs auf ihre Hand
tropfte, fest in der Faust. Wenn sie erlosch, dann erlosch sie eben. Sie würde
ihren Weg hinauf schon finden.
Biegung um Biegung schlängelte
sich der Kellergang durch die Finsternis. Das schwache Licht der Kerze reichte
kaum aus, um die Wände links und rechts zu beleuchten, und immer wieder geriet
Redzep, der Sallie mit flinken Füßen voraneilte, aus ihrer Sicht. Das zerlumpte
mantelähnliche Gewand, das er trug, verschmolz in seiner graubraunen Farbe
vollkommen mit den Wänden des Gangs. Sallie beeilte sich, zu ihm aufzuschließen.
»Wie weit ist es noch?«, fragte sie.
Das Gesicht des Jungen war nur
noch ein heller Fleck in der dichter werdenden Dunkelheit. Sallie blickte auf
ihren Wachsstummel. Der spärliche Rest ihrer Kerze hielt mit Müh und Not noch
ein zuckendes kleines Flämmchen am Leben, das jetzt, als sie ihn ansah, noch
einmal aufleuchtete und erstarb.
»Wir sind fast da«, hörte sie
Redzep sagen.
Die Finsternis umschlang sie
wie ein erstickendes Tuch. Sallie rang nach Luft und streckte die Hand aus. »Wo
bist du?«
Seine dünnen Finger griffen
nach ihrem Handgelenk. »Bald da«, wiederholte er. »Du darfst keine Angst haben,
Sallie. Wenn du Angst hast, kannst du nichts sehen.«
»Ich habe keine Angst«,
erwiderte sie. »Aber wie findest du hier deinen Weg?«
»Das ist mein Reich, Sallie.
Meine Füße erkennen den Weg, meine Nase riecht ihn, meine Hände fühlen ihn«, er
lachte, »und meine Augen können ihn sehen.«
»Hu!«, machte sie, denn etwas
berührte ihre Augen. Redzeps Hand strich ihr über die Lider.
»Du kannst es auch, Sallie,
meine Königin. Schau.«
Sallie blinzelte. Einen
Lidschlag lang meinte sie, den Weg vor sich und Redzeps zerlumpte Gestalt erkennen
zu können, dann war es wieder schwarz um sie. Sie schloss die Augen und öffnete
sie wieder, und es machte keinen Unterschied.
»Na gut«, sagte sie laut und
tappte weiter blind hinter Redzep her. »Erzähl mir etwas über dein Reich, edler
Herr.
Er antwortete nicht sofort.
Sie hörte seinen leichten Atem, dann begann er mit seiner heiseren Stimme leise
zu sprechen. »Als die Drachen ihre Kinder verließen, herrschten Trauer und
große Angst unter den Völkern. Die Kleinen und Wehrlosen unter den Geschöpfen
wussten, dass nur zu bald der Kampf um die Herrschaft beginnen würde und dass
sie der Boden unter den Füßen der Großen und Kräftigen sein würden. Ein Boden,
der im Kampf zertrampelt und zerwühlt werden würde.«
Er schwieg, als müsste er
seine Gedanken ordnen. Seine Hand drückte fest um ihre Finger.
»Mein Volk riet den anderen
kleinen Völkern, sich zu verstecken. Wir gehörten immer schon zu den Kleinsten
und Schwächsten, zu denen, die gejagt und verfolgt wurden, wann immer einer der
Großen uns zu Gesicht bekam, und deshalb wussten wir, wie wichtig es ist, sich
zu ducken und in Löchern und Spalten zu verschwinden, wenn der Kampf beginnt.«
Er kicherte leise. »Außerdem ist es leichter, einen Großen in den Fuß zu
beißen, wenn man unter ihm im Verborgenen kauert.«
Sallie lachte mit ihm. »Und
dann ist dein Volk hier ins Dunkle gegangen, um sich zu verstecken«, sagte sie.
»Nein, nein. Das war viel
später.« Redzep seufzte. »Dass wir uns hier versteckt haben, war meine Entscheidung
und mein Fehler. Damals dachte ich, richtig zu handeln. Ich wusste nicht, dass
dies ein Gefängnis sein würde und wir nie wieder das Sonnenlicht erblicken sollten.«
Er seufzte erneut, tief und hoffnungslos. »Die Sonne«, sagte er sehnsüchtig.
»Ah, wie ich sie vermisse! Sonnenschein und Wasser, das über Steine plätschert,
Vögel, die singen, und Regen, der auf dein Gesicht fällt, der Geruch von warmem
Gras und kalter Schnee, der deine Ohren und Zehen erfrieren lässt. Ich vermisse
sogar den Schnee, Sallie.«
»Schnee?«, fragte sie ratlos.
»Da sind wir«, sagte er und
lachte übermütig. Sie fühlte, wie er sich im Kreise drehte. Ein Luftzug wehte
um ihren Kopf, und Redzeps Lachen rief ein Echo hervor, das kichernd nachhallte.
Sie streckte tastend die Hände aus, aber die Wände des Ganges, in dem sie sich
bisher bewegt hatten, waren fort. Offenbar standen sie in einem großen Raum.
»Wenn ich doch nur etwas sehen
könnte«, sagte Sallie.
»Warte«, hörte sie Redzep
sagen.
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