Der Nebelkönig (German Edition)
ersparen. Warum hatte sie es nicht schon
früher ausprobiert?
Einen Moment lang war sie in
Versuchung, der Bibliothek einen Besuch abzustatten. Wo mochte der Zauber sie
wohl absetzen? Und was würde Uhl dazu sagen?
Und dann all die Gefilde des
Hauses, in die sie noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Der Südflügel! Der Große
Turm! Und es sollte ein Arboretum irgendwo im Westen geben, mit Bäumen, die sie
noch nie zu Gesicht bekommen hatte – so hoch wie ein Turm und so dick wie ein
ganzes Zimmer!
Sallie war so aufgeregt über
diese Aussichten, dass ihr die Knie zitterten. Und da wartete ja noch eine andere
Verlockung gleich unter ihrem Bett – das Buch.
»Was für ein Glück ich habe«,
sagte sie laut und öffnete die Tür zum Schlafsaal, den sie um diese Zeit ganz
für sich allein wusste.
6
Niemand hatte voraussehen
können, welche Folgen das Verschwinden der Drachen für die Welt und ihre
Bewohner haben würde. Der letzte Drache hatte sich schließlich aufgemacht zu seiner
langen Reise in die Dunkelheit zwischen den Sternen und er ließ seine Kinder
führerlos zurück.
Die Drachen waren strenge,
aber gütige Herrscher, und die Menschen und Geschöpfe der Welt fügten sich
willig unter ihre Herrschaft, denn sie bedeutete Frieden, Wohlstand und Sicherheit
für alle Kreaturen.
Vielleicht begingen die
Drachen einen Fehler, als sie ihre Schützlinge nicht für reif genug erachteten,
selbst über ihr Geschick und ihr Leben zu entscheiden. Aber da sie älter waren
als die Welt, auf der sie nun weilten, und alles, was darauf kreuchte und
fleuchte, in ihren Augen so schwach und unerfahren war wie ein neugeborenes
Kätzchen, erschien es ihnen undenkbar, anders als mit Güte, Strenge und
umfassender Sorge die Geschicke der Welt zu lenken.
Dann gingen sie fort. Niemand
wusste, woher die Drachen auf ihrer äonenalten, ruhelosen Reise einst gekommen
waren und wohin sie nun weiterzogen.
Der letzte der Drachen indes
zögerte, sich seinen Brüdern und Schwestern anzuschließen. Es widerstrebte ihm,
die Geschöpfe der Welt, die so unreif und jung waren, alleinzulassen, weil er
erkannte, dass sie, die Drachen, es versäumt hatten, ihre Kinder auf eine Zeit
vorzubereiten, in der sie für sich selbst verantwortlich sein würden.
Darum blieb er als Einziger
zurück, und das Unglück nahm seinen Lauf.
Der letzte Drache hatte einen
Ziehsohn, der ihn von Herzen liebte. Dieser Jüngling erkannte, wie sehr sein
Volk die lenkende und schützende Hand seines Ziehvaters gewöhnt war. Er begann
sich zu fragen, was sein würde, wenn auch dieser, der letzte Drache, sie
verließ, um zu den Sternen zu fliegen.
Der Ziehsohn des Drachen bat
seinen Vater um Erlaubnis, die Welt bereisen zu dürfen, um zu lernen, ein
weiser und kluger Herrscher zu werden, wie es sein Ziehvater war.
Der letzte Drache gewährte ihm
diese Bitte, aber er warnte seinen Sohn, denn auch in einer friedlichen Welt
konnten Gefahren auf einen Suchenden lauern.
Der Jüngling vernahm die
Mahnung und schloss sie in sein Herz.
Sallie rieb sich die müden
Augen. Eigentlich hatte sie sofort schlafen wollen, aber das Buch unter ihrem
Bett rief mit zu lockender Stimme und ließ ihre Neugier nicht schlummern.
Sie kannte die Geschichte, wie
sie beim Blättern im Buch feststellte. Das enttäuschte sie zuerst, weil es doch
viel, viel spannender war, neue Geschichten kennenzulernen.
Aber dann begann sie zu lesen,
und das, was sie las, fesselte sie auf ganz unvermutete Weise. Dies war eine
vertraute Geschichte, doch sie war vollkommen ungewohnt erzählt. Nicht nur die
Worte waren andere, auch der Blick, aus dem die Welt und die Geschehnisse darin
betrachtet wurden, war fremd und neu.
Auch hier gab es den Drachen
und seinen Sohn, und es gab die Menschen und Geschöpfe, die auf der Welt
lebten. Sogar die Katzenkönigin erschien später im Buch, das hatte Sallie gesehen,
als sie ein wenig vorgeblättert und hier und da einen Absatz gelesen hatte.
Die Geschichte verlief zwar
beinahe, wie Sallie sie in Erinnerung hatte, aber dennoch war alles so
verändert, dass sie sie kaum wiedererkannte. Der Sohn des Drachen reiste durch
die Welt und fand eine Seelenfreundin. Auch sie beunruhigte der Gedanke, was
sein würde, wenn der letzte der Drachen seine Kinder verließ. Sie gehörte der
Familie der Katzen an, eine große und angesehene Sippe, die es nicht billigte,
wenn ihre Tochter einen streunenden Wolf ihren Freund nannte – und sei er auch
der Sohn
Weitere Kostenlose Bücher