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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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»Oh, Sallie, das wäre so wunderbar!« Dann
verdüsterte sich seine Miene. »Aber ich kann doch mein Volk nicht im Stich
lassen«, setzte er ein wenig vorwurfsvoll fort. »Sie wären schutzlos ohne mich.
Nein, Sallie, das kann ich nicht tun.« Seine Augen schimmerten feucht vor
Sehnsucht und Trauer.
    »Redzep«, sagte sie und nahm
ihn in den Arm. Leicht und knochig lag er an ihrer Schulter, und sie strich ihm
unbeholfen über den mageren Rücken. »Redzep, da unten ist doch niemand. Du bist
ganz allein!«
    Er machte sich heftig frei.
»Lass mich«, fuhr er sie an. »Ich kann nicht hier oben bleiben. Ich würde sterben,
genau wie mein Volk!«
    Er wandte sich ab und rannte
davon. Sallie sah ihm nach, aber sie folgte ihm nicht. Seine Schritte
entfernten sich, dann war es still.
    Sallie biss sich auf die Lippe. »Der arme Junge«,
sagte sie laut. Dann packte sie die Kerze fester und machte sich auf den Weg
nach oben.
     
     
     
     
     
    7
     
     
    Der böse Schnitt in ihrer Hand
verschaffte Sallie eine wunderbare Zeit. Sie saß im Obstgarten unter einem
Kirschbaum und las in ihrem Buch, bis sie unruhige Füße bekam, in die Küche
ging und unter den neidischen Blicken der anderen Küchenhilfen einen Imbiss zu
sich nahm.
    Dann legte sie sich zu einem
kleinen Nickerchen in ihr warmes Bett, um am Nachmittag ein wenig mithilfe des
Wolfskopf Transportes durch das Haus zu streunen. Sie wagte einen kurzen
Ausflug in den Südflügel, wo sie in einem stillen Korridor die seidenen
Tapeten, die Wandleuchter und Bilder, die Täfelungen und dicken Teppiche
bewunderte, bevor sie schnell wieder in die sicheren Gefilde des Ostflügels
zurückkehrte.
    Abends suchte sie dann Uhl in
der Bibliothek auf, wo sie ein wenig lustlos in dem Buch herumblätterte, das er
ihr hingelegt hatte. Er war zwischen den Regalen verschwunden und tat dort, was
immer ein Bibliothekar so zu tun pflegte – jedenfalls nahm sie das an.
    »Uhl«, rief sie nach einer
Weile. »Uhuuuhl. Bitte, ich möchte mich unterhalten.«
    Es dauerte eine Weile, dann
hörte sie ihn herankommen. Er hockte sich auf seinen Platz und sah sie fragend
an. »Unterhalten? Worüber denn, Kind?«
    Sallie schob das Buch beiseite
und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Ich möchte wissen, ob alles, was in
Büchern geschrieben steht, die Wahrheit ist.«
    Der Bibliothekar zuckte kurz
mit den Lidern und räusperte sich krächzend. »Nun«, sagte er gedehnt. »Ja, es
kommt ganz darauf an.«
    Sallie wartete, dass er
weitersprach, aber anscheinend hatte Uhl damit alles gesagt, was er sagen
wollte.
    »Das ist doch keine Antwort«,
beschwerte sie sich. »Worauf kommt es an?«
    Uhl hob unbehaglich die
Schultern und kratzte sich an der Nase. »Sieh mal«, begann er, »so ein Buch –
das hat ja irgendwann einmal jemand geschrieben. Oder schreiben lassen.« Er
rollte mit den Augen und suchte nach Worten.
    Sallie runzelte die Stirn. »Du
meinst, wenn jemand etwas aufschreibt, dann ist das nicht unbedingt die
Wahrheit?«
    »Nein, das meine ich nicht.
Oder doch, ja, das ist nicht ganz falsch.« Uhl ruckelte hin und her. Das Thema
schien ihn zu kratzen wie eine Distel. »Wenn ich zum Beispiel etwas
aufschreiben würde. Etwas, das mir in meiner Jugend passiert ist. Ich habe zwar
ein gutes Gedächtnis, aber trotzdem kann ich mich nicht an alles erinnern. So
viel Platz ist ja in keinem Kopf.« Seine Stimme wurde leiser und verstummte,
und sein Blick wurde glasig. Sallie stöhnte kurz auf. Sie kannte diesen Blick,
mit dem Uhl irgendwo in der Vergangenheit verschwand. Es konnte jetzt lange
dauern, bis er wieder zurück ins Hier und Heute kam und sie Gelegenheit hätten,
die Unterhaltung fortzusetzen.
    Sallie stand auf und sah sich
das Regal in der Nähe an. Es war voller Bücher, die irgendwann einmal irgendjemand
geschrieben hatte. Sie fuhr mit dem Finger über die Buchrücken und las die
Titel. Eine Geschichte der Völker, ein Buch über die Könige des Schattenreichs,
zwei dicke Bände, die sich mit Grammatik beschäftigten, und ein Büchlein, das
»Stadtführer« hieß. Sallie las ein wenig darin und staunte, dass Straßen und
Plätze beschrieben wurden, Gebäude und Denkmäler. Sie sah die Abbildungen und
schüttelte verwirrt den Kopf. Wieder etwas, das sie nicht verstand und über das
sie mit Uhl reden musste. Stadt, den Begriff kannte sie. Sie hatte immer
angenommen, dass die Stadt irgendwo zwischen dem Südflügel und dem Großen Turm
liegen musste, denn es schien sich um etwas Riesiges zu handeln.

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