Der Nebelkönig (German Edition)
Schritte entfernten sich und sie hörte, wie Redzep etwas verschob oder
öffnete und raschelnd herumkramte.
Dann kehrten die Schritte
zurück. »Da«, sagte Redzep und drückte ihr etwas in die Hand. Sallie befühlte
es und ertastete glattes Wachs und einen Docht. »Eine Kerze«, freute sie sich.
Sie fasste in ihre Schürzentasche und holte die Zunderbüchse heraus. Ein
Schwefelhölzchen war noch darin, das sie über den Feuerschwamm rieb, bis es
sich entzündete. Schnell, bevor das Hölzchen herunterbrannte, ließ sie die
Flamme auf den Docht überspringen und schirmte das Flämmchen behutsam mit der
Hand ab, bis es stark und klar brannte. Sie blinzelte. Nach der langen Reise
durch die Dunkelheit erschien ihr das Kerzenlicht so hell, dass es in den Augen
schmerzte.
Dann sah sie sich um. Redzep
hüpfte erwartungsvoll neben ihr von einem Fuß auf den anderen. »Na?«, fragte
er. »Wie gefällt es dir, Sallie? Das ist mein Thronsaal.«
Sein Thronsaal. Sallie hob die
Kerze über den Kopf, um den Lichtschein weiter hinauszuschicken. Sie befanden
sich in einem recht großen, höhlenähnlichen Raum mit unebenem Boden und zerklüfteten
Wänden. Er war so gut wie leer, nur an der Stirnwand, gegenüber vom Eingang,
war ein Berg von Lumpen aufgehäuft und daneben standen einige geborstene Kisten
und ein wackeliger Stuhl mit drei Beinen und einer halb abgebrochenen
Rückenlehne.
»Hier wohne ich«, sagte
Redzep. »Schau, das ist mein Sitz und daneben mein Bett.« Er wies auf die Lumpen.
»Und hier stelle ich dir mein
Volk vor«, fuhr er fort und machte eine weit ausholende Handbewegung, die den
ganzen leeren Raum umfasste.
Sallie starrte sich die Augen
aus dem Kopf, doch sie waren und blieben allein in Redzeps »Thronsaal«. »Aber
wo ist dein Volk?«, fragte sie.
Redzep blinzelte verwundert.
»Na, hier. Schau doch. Sie alle huldigen dir, meine Königin! Hörst du nicht,
wie sie deinen Namen rufen?« Er drehte sich um die eigene Achse und winkte
huldvoll in eine Menge, die nur er sehen konnte.
Sallie fröstelte. »Redzep«,
sagte sie hilflos. »Hier ist niemand außer uns.«
Er hörte ihr nicht zu, sondern
schritt langsam zu dem dreibeinigen Stuhl, auf dem er sich niederließ, während
er immer noch huldvoll nach rechts und links grüßte.
Dann ordnete er würdevoll
seinen zerlumpten Mantel um die mageren Glieder und bedeutete Sallie, sie möge
näher treten. »Begrüßt Sallie, die Königin«, rief er. »Sie beehrt uns mit ihrem
Besuch in unserem kleinen Land.«
Er winkte ihr ungeduldig, und
Sallie eilte mit einem leisen Seufzer an seine Seite. »Richte ein paar Worte an
mein Volk«, flüsterte Redzep. »Bitte!«
Sallie sah sich in dem leeren,
düsteren Raum um. Es war ein wenig feucht und zog erbärmlich, und es roch nach
Moder und alten Dingen. Sie räusperte sich.
»Ich freue mich, bei euch zu
sein«, begann sie. »Und ich danke eurem Herrn, dem edlen Redzep, dass er mich
eingeladen hat, sein Reich zu besuchen. Ich wünsche ihm – euch, dass es euch
gut geht und dass ihr immer glücklich seid.«
Sie verstummte und sah Redzep
an, der zufrieden lächelnd auf seinem wackligen Stuhl thronte.
»Das war eine schöne Rede«,
sagte er.
»Danke«, flüsterte sie. »Darf
ich jetzt gehen, Redzep? Ich bin so müde und der Weg war so lang.«
Er sprang auf die Füße und
nahm ihre Hand, um ihr einen schwungvollen Kuss daraufzudrücken. »Ich bringe
dich nach Hause, meine Königin.« Mit großer Geste wandte er sich um: »Mein
Volk, ich muss euch verlassen, um unseren Gast heimzugeleiten. Seid tapfer und
widersteht dem Feind, falls er sich hier unten bei uns blicken lässt. Ich bin
bald wieder bei euch!«
Sallie meinte, ferne Hochrufe
zu vernehmen. Sie schüttelte den Kopf. Redzeps wahnhafte Vorstellung begann
schon auf sie abzufärben. »Gehen wir«, drängte sie.
Der Rückweg erschien endlos.
Ihre Füße schmerzten und ihre Augen waren müde vom Starren in die Dunkelheit.
Sie umklammerte die Kerze und ihr Buch und lief stumm neben dem schweigenden
Jungen her. Ab und zu warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu. Er machte auf
sie nicht den Eindruck eines Wahnsinnigen, vielmehr wirkte er einsam und ein
wenig verloren.
»Redzep, willst du nicht oben
bleiben?«, fragte sie, als sie in der Ferne das Licht der ersten Lampe sehen
konnte. »Du könntest bestimmt in der Küche arbeiten, als Scheuerjunge, oder dem
Gärtner helfen. Wäre das nicht schön?«
Er blieb stehen und sah sie
groß an. »In der KÜCHE«, sagte er.
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