Der Nebelkönig (German Edition)
Männchen.
»Was liest du da?«, fragte
eine atemlose, heisere Stimme.
Sallie japste. »Hast du mich
erschreckt«, sagte sie vorwurfsvoll. »Warum schleichst du dich so an?«
Er grinste ein wenig verlegen
und hockte sich neben sie. »Ich wusste doch nicht, ob du es wirklich bist.«
Sallie lachte. »Wer sieht denn
hier noch so aus wie ich?«
Er musterte sie ernsthaft und
gründlich. Seine zotteligen Haare hingen ihm in die Augen und die spitze Nase
rümpfte sich witternd. »Der Nebelkönig, wenn er will«, sagte er schließlich.
»Aber du bist wirklich du. Das ist gut.«
Jetzt schnappte sie zum
zweiten Mal nach Luft. »Der Nebelkönig«, wiederholte sie verdutzt. »Aber das
ist doch nur eine Geschichte.« Sie tippte auf ihr Buch.
Redzep zuckte mit den
Schultern. »Eine böse Geschichte«, sagte er düster. »Mir macht es nicht viel
Spaß, darin zu leben, in deiner Geschichte. Aber ich wohne ja auch nicht in der
KÜCHE!«
»Ich auch nicht«, entgegnete
Sallie zerstreut. »Wie hast du das mit dem Nebelkönig gemeint, Redzep?«
Aber der Junge hatte etwas
entdeckt, was ihn mehr interessierte als der böse Zauberer aus der Geschichte.
Seine Nase zuckte aufgeregt. »Käse, Sallie«, sagte er sehnsüchtig. »Und ich
rieche noch etwas ... das habe ich so lange nicht mehr gerochen! Sallie, was
ist das?«
Sie nahm das Bündel, legte es
zwischen ihnen auf den Boden und schlug den Stoff auseinander. Redzeps
schnuppernde Nase näherte sich den ausgebreiteten Leckereien. »Oh«, machte der
Junge verzückt. »Oh, anbetungswürdige Göttin der KÜCHE! Braten!«
Sallie lachte und riss die
Bratenscheibe in zwei Hälften, deren größere sie Redzep reichte. »Nimm dir
Brot«, lud sie ihn ein. Er ließ sich nicht zweimal bitten.
Sallie sah ihm beim Essen zu.
Sie hatte erwartet, dass er über das Fleisch herfallen und es herunterschlingen
würde, aber der Junge aß andächtig und langsam und leckte sich zwischen den Bissen
sorgfältig jeden Krümel und jedes Bröckchen von den Fingern.
»So gut«, seufzte er
schließlich und leckte noch einmal über seine Finger. »Ach, Sallie! Ich hatte
ganz vergessen, wie es ist, so gut zu essen.«
Sie blickte auf das Stück Brot
mit Braten, das noch immer unberührt in ihrem Schoß lag. Sie hatte Käse und
Nüsse, Brot und eine Birne gegessen und war beinahe satt. Und er war so
schrecklich dürr und sah so hungrig aus.
Sallie reichte ihm das belegte
Brot. »Hier, du kannst es haben. Ich bin ganz schrecklich satt.«
Seine Augen funkelten, aber er
zögerte. »Du bist zu großzügig«, sagte er. »Dies ist dein Essen. Du hast es
schon mit mir geteilt.«
»Nimm es, bitte«, sagte
Sallie. »Ich kann jederzeit in die KÜCHE gehen und mir etwas zu essen holen, du
aber nicht.«
Er lächelte, weil sie das Wort
genauso betont hatte, wie er es immer tat. »Danke, du Großherzige«, sagte er
und nahm ihr behutsam das Brot aus den Fingern. Dabei blickte er auf den
Verband an ihrer linken Hand. »Du bist verletzt? Wer hat das getan? Soll ich
meine Leute rufen, dass sie den Bösewicht bestrafen?«
»Das wird schwierig«, murmelte
Sallie und dachte an den Bösewicht namens Küchenmesser. »Ich habe mich
geschnitten, weißt du?«
Er legte das gerade
angebissene Brot auf sein Bein und nahm ihre Hand zwischen seine schmutzigen
Hände. »Du solltest der KÜCHE nicht dein Blut opfern. Nimm etwas, das weniger
wert ist als dein eigenes Fleisch.«
»Was meinst du – eine Maus
oder eine Ratte?«, lachte Sallie.
Redzeps Nase zuckte heftig.
»Nein, das, das ...«, stotterte er und wich krabbelnd zurück, wobei das Bratenstück
auf den Boden fiel. Er streckte flehend die Hände aus. »Natürlich, wenn du es
so wünschst, dann ... Wer bin ich, dass ich mich sträube ... aber ... ach,
Herrin, ich bitte dich, verschone mein Volk!« Er stand geduckt, zur Flucht
bereit vor ihr.
»Redzep«, rief Sallie
erschüttert und griff nach seiner Hand. »Hör mal, ich habe das doch nicht ernst
gemeint! Ich würde niemals einem Menschen oder einem Geschöpf etwas zuleide
tun!«
»Ja«, murmelte der Junge, der
den Kopf so tief gesenkt hielt, dass sie seine Augen unter dem zotteligen Haar
nicht sehen konnte. »Das weiß ich. Und doch, du bist die Herrin. Du könntest
uns alle töten, die wir hier im Dunkeln leben, und lachend zurückkehren in die
helle, warme KÜCHE.«
»Redzep, du redest dummes
Zeug«, erwiderte Sallie energisch. »Ich habe noch nie jemanden getötet und ich
habe auch nicht vor, damit anzufangen. Wie
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