Der Nebelkönig (German Edition)
inne. Dort waren Leute! Sie
schnaufte empört. Wie konnten dort Leute sein, das war doch ihr ganz geheimer
Platz!
Sie drehte sich um, wollte
gehen, als sie Uhl sagen hörte: »Wir haben einen riesengroßen Fehler gemacht.
Keiner von uns erinnert sich an alles, und wir verändern uns nicht mehr. Das
Haus ist stärker, als wir dachten.«
Sallie lehnte sich an das
Regal und lauschte. Das klang wie eine wirklich interessante Geschichte, die
Uhl da jemandem erzählte, und sie wollte sie unbedingt hören.
»Die fehlende Erinnerung ist
das Schlimmste«, erwiderte eine Frauenstimme. »Ich kann damit leben, nicht
älter zu werden«, die Frau lachte leise. »Aber dass ich nicht genau weiß, was
meine Aufgabe ist, macht mich krank.« Sie zischte aufgebracht durch die Zähne.
»Gemach, liebe Freundin«,
erwiderte der Bibliothekar. »Du weißt genug, um deine Aufgabe erfüllen zu
können – ebenso wie ich. Dass dir bisher kein Erfolg beschieden war, ist nicht
deine Schuld.«
»Ach«, fauchte die Frau.
»Meine Schuld, deine Schuld – wen interessiert das? Es müsste mir längst gelungen
sein, herauszufinden, hinter wessen Gesicht ER sich verbirgt. Wie soll sie
gegen ihn bestehen, wenn wir nicht einmal wissen, wer er ist?«
»Wie soll sie überhaupt gegen
ihn bestehen?«, mischte sich ein Dritter ein. Er hatte einen dunklen, warmen
Bariton, der Sallie beinahe bekannt vorkam. »Seht sie euch doch an! Dieses Kind
kann keiner Fliege etwas zuleide tun.«
»Und was ist mit Redzep?«,
unterbrach ihn die Frau. »Und mit dem schwarzen Ben? Wir wissen immer noch
nicht, wer damals ... Still! Da ist jemand!«
Sallie hatte sich bewegt, und
dabei war ein Buch ins Rutschen gekommen und hatte sich mit einem leisen »Puff«
auf das Regalbrett gelegt. Sallie hörte, wie jemand auf leisen Sohlen
davonlief.
Sie richtete sich auf und
rief: »Uhl? Bist du da?« Damit bog sie auch schon um das Regal und sah eine
große, schlanke Frau, die wie ertappt neben dem Tisch stand. Langes dunkelrotes
Haar, ein helles Gesicht mit grünen Augen, die sie fast ängstlich ansahen.
»Guten Tag«, sagte Sallie verblüfft, denn sie hatte diese Frau noch nie zuvor
gesehen. War das jemand von der Herrschaft?
»Hallo Sallie«, erwiderte die
Frau. Es klang vertraulich, als wären sie alte Bekannte.
Sallie sah Uhl an, der in
seinem Sessel hockte und sich die Augen rieb. »Wir haben nicht mit dir
gerechnet«, sagte er ein wenig vorwurfsvoll.
»Was habt ihr besprochen?«
Sallie entschied sich für den geraden Weg.
Die beiden blickten sich
unbehaglich an. »Weißt du ...« – »Nichts, was ...«, begannen dann beide
gleichzeitig zu sprechen.
»Bitte«, murmelte Uhl höflich.
Die Frau zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.
»Sallie, wir haben ein
Problem«, begann sie. »Ich bin der Meinung, wir sollten aufhören, dich zu
schonen, und endlich Klartext reden.«
»Kaltrina, bitte!«, fuhr Uhl
dazwischen. »Wenn sie unvorbereitet mit diesem Wissen in SEINE Hände gerät, ist
sie verloren und wir mit ihr!« Sallie hatte ihm nach seinem ersten Ausruf gar
nicht mehr zugehört. »Kaltrina? Wieso nennt er dich so?«
Die Frau seufzte. »Uhl, du
bist ein seniler Trottel«, murmelte sie dann. »Und worauf willst du warten? Wir
alle werden nicht mehr älter – auch Sallie nicht!«
Der Bibliothekar sank im Sitz
zusammen. »Ach, ach«, jammerte er und rieb wieder seine Augen.
Sallie stemmte die Arme in die
Seite. »Natürlich werde ich älter«, wickelte sie den Faden auf, der ihr am
wenigsten rätselhaft erschien. »Jeden Tag und jede Woche und jedes Jahr.«
Die Frau, die Uhl »Kaltrina«
genannt hatte, schüttelte nachsichtig den Kopf. »Wie alt bist du?«, fragte sie.
»Fast vierzehn.«
»Und wann wirst du fünfzehn?«
Sallie öffnete den Mund und
schloss ihn wieder. Sie runzelte die Stirn.
Die Frau beobachtete sie. »Und
wann bist du dreizehn geworden, erinnerst du dich daran?«
Sallie presste die Lippen
zusammen. »Ihr wollt mich nur aufziehen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Was soll das
denn? Ich bin fast vierzehn und ich heiße Sallie. Das ändert sich nicht.«
Die Frau lachte. Sie wirkte
entspannter als zu Anfang. »Also, Uhl?«
Der Bibliothekar ruckelte von
einem Fuß auf den anderen und verdrehte den Kopf. »Nicht jetzt. Wir müssen
unser Vorgehen gut besprechen. Wenn wir an dieser Stelle einen Fehler machten,
dann wäre das fatal.«
Offensichtlich war die Frau
nicht damit einverstanden, aber sie nickte. »Du sitzt am Ruder«, erwiderte
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