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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Atem strich über ihr Gesicht, und für die Zeit eines Blinzelns
konnte sie sehen, was da geifernd über ihr kauerte und ihr die Kehle zu
zerfleischen drohte. Sallie schrie auf und schlug schützend die Hände vor ihr
Gesicht.
    »Dummes Küchenmädchen«,
wiederholte die Stimme. Die Last, die auf ihr ruhte, hob sich und verschwand.
Sallie tastete zittrig nach dem Wolfskopf und schauderte, als sie ihn berührte.
Für heute hatte sie wahrhaftig genug von Wölfen.
    »Zum Steilen Gang, bitte
schnell«, sagte sie. Und während das schwindelerregende Gefühl des Transportes
sie ergriff, hörte sie den Wolf heulen – laut, wütend und tieftraurig.
     
     
     
     
     
    8
     
    Frau Lulezime stand neben dem
großen Schrank mit feiner Leinenwäsche. Vor seinen weit geöffneten Türen kniete
ein Serviermädchen mit sich auflösenden Zöpfen und hochrotem Gesicht, das
stapelweise Tischtücher und steif knisternde Servietten aus seinem Inneren holte
und neben sich in einen Korb schichtete.
    »Einunddreißig, zweiunddreißig
...«, zählte die Wirtschafterin und machte Striche auf ihrer Liste. »Bist du
sicher, dass du wirklich alle Servietten gefunden hast, Drita?«
    Das Serviermädchen wischte
sich mit dem Arm über die erhitzte Stirn. »Ich schaue noch einmal nach, Frau
Lulezime.«
    Sie schlüpfte aus den
Pantinen, schürzte ihren Rock und kroch in das Innere des Schrankungetüms.
Sallie, die das Schauspiel beobachtete, wartete gespannt, ob das hölzerne Maul
das verschluckte Serviermädchen wieder freigeben würde, und wirklich kamen nach
ein paar Momenten die bestrumpften Beine erneut zum Vorschein, und dann das
braun berockte Hinterteil, die helle Bluse und die inzwischen völlig
aufgelösten Zöpfe. Triumphierend schwenkte das Mädchen drei weiße Servietten.
    »Dreiunddreißig,
vierunddreißig, fünfunddreißig«, sagte Frau Lulezime zufrieden und machte einen
Haken. »Sehr gut. Dann haben wir alles beisammen. Bring diesen Korb wie die
anderen zur Wäschemamsell, Drita. Und dann brauche ich dich in der Besteckkammer.«
    »Jawohl, Frau Lulezime.« Das
Serviermädchen knickste und hob den schweren Korb mit Schwung auf ihre Hüfte.
    Die Wirtschafterin sah Sallie
an. »Was wollte ich von dir?«
    Sallie hob die Schultern.
    »Ach ja. Du wirst an Rozas
Stelle im Blauen Saal servieren.« Frau Lulezime blätterte durch die Listen und
Notizen, die sie mit zwei Wäscheklammern auf einem Tablett festgeklammert
hatte. »Endrit und Imer waren sehr zufrieden mit dir, sie sagen, du hast deine
Arbeit gut gemacht. Roza kann in diesem Jahr im Gelben Salon am Büfett
aushelfen, da stört es nicht, dass sie ein wenig langsam ist.«
    Sie warf Sallie einen scharfen
Blick zu, und die knickste ergeben. »Danke, Frau Lulezime.«
    Die Wirtschafterin nickte
knapp. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du die Küche verlassen willst.«
    Sallies Mund klappte auf.
»Aber – nein, Frau Lulezime.«
    Ein missbilligender Blick.
»Nun«, sagte die Wirtschafterin. »Bitte, du musst es ja wissen. Sag mir, wie du
dich entscheidest.« Sie wandte sich ab. »Ich erwarte dich morgen pünktlich zur
Besprechung im Blauen Saal.« Sie war zur Tür hinaus, ehe Sallie fragen konnte,
wann genau dieses »Pünktlich« war – und wie sie den Blauen Saal finden würde.
     
    In Gedanken versunken ging sie
durch den Küchengarten und dann den Steilen Gang hinauf. Vor dem Wolfskopf in
der Nische wandte sie den Blick ab, aber seine tückischen Augen verfolgten sie,
und sie wusste, dass auf den gemeißelten Zähnen der Speichel glänzte. Sallie
schauderte. Sie träumte nachts von Wölfen, die im Nebel heulten, und von
Reißzähnen, die sich in ihr weiches Fleisch bohrten und es zerfetzten. Jetzt
beschleunigte sie ihre Schritte, bis das Zeichen hinter der Biegung
verschwunden war. Keine zehn Pferde würden sie dazu bringen, den Transport noch
einmal zu verwenden. Wer weiß, ob er sie nicht ungewollt wieder dort hinauf in
den Turm und zu der Bestie darin bringen würde.
    Sie drückte die schwere Tür
der Bibliothek auf und lief durch die langen Regalreihen, während sie immer
noch an ihr Erlebnis im Großen Turm dachte. Die Angst, die sie danach noch bis
in ihre Träume geschüttelt hatte, war inzwischen einem beklemmenden Gefühl
gewichen, und vielleicht konnte sie heute Uhl davon erzählen und sich von ihm
beruhigen lassen.
    Das deckenhohe Regal mit den
dunklen Geschichtsbüchern, hinter dessen schützendem Wall sich ihr Treffpunkt
mit Uhl verbarg, näherte sich und Sallie hielt

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