Der Nebelkönig (German Edition)
Gewicht dagegen, aber nichts geschah. »Geh
auf«, stöhnte sie. »Geh schon auf, du dumme Tür!« Dabei drehte sie den Knopf
und fiel beinahe ins Freie.
Sallie wusste nicht, was sie
erwartet hatte, aber sie konnte einen enttäuschten Aufschrei nicht
zurückhalten. Es war finster, stockfinster, mitternachtsfinster, finster wie in
einer Kohlenschütte. Wo bin ich nur gelandet?, fragte sie sich entmutigt. Warum
hatte der Rabe ihr nicht geholfen?
Sie befahl sich, nicht
herumzustehen und zu jammern, sondern gefälligst nach einem Weg nach draußen zu
suchen, und ging aufs Geratewohl los.
Dieses Mal stieß sie nicht
nach ein paar Schritten gegen eine Wand. Der Boden unter ihren Füßen war etwas
uneben, ihre Schritte hallten dumpf und die Luft war kühl und abgestanden.
Sallie ging Schritt um Schritt voran, müde wie ein Stein. Sie sehnte sich nach
ihrem Bett oder irgendeinem ruhigen, warmen Platz, an dem es nicht roch wie im –
»Keller«, sagte sie laut. »Ich bin ja im Keller!«
Der Gedanke munterte sie ein
wenig auf, bevor ihr einfiel, wie ungeheuer weitläufig der Keller war und dass
sie möglicherweise tagelang hier unten umherirren konnte, ehe sie hinausfand.
Falls es ihr in der Dunkelheit überhaupt jemals gelingen würde, die Treppe nach
oben zu finden.
»Oh, so ein Mist, Mist,
Mist!«, rief sie laut und wütend.
»Warum hat der Rabe mich
allein gelassen?«
»Weil er ein Verräter ist«,
sagte Redzep.
Sallie machte einen
erschreckten Hüpfer, denn sie hatte nicht bemerkt, dass der Rattenkönig auf
lautlosen Sohlen neben ihr herging.
»Wo kommst du her?«, fragte
Sallie und tastete nach ihm. Sie spürte erleichtert, wie seine dünnen Finger
ihre Hand ergriffen und fest umschlossen. Also hatte sie sich seine Stimme
nicht nur eingebildet.
»Ich lebe hier, hast du das
vergessen?« Er lachte und es klang erstaunlich vergnügt. »Warst du oben, beim
Großen Fest? Es ist immer so herrlich«, fuhr er geradezu euphorisch fort. »So
viel zu essen. All die wunderbaren Sachen. Ach, für mich könnte jeden Tag so
ein Fest sein!«
Sallie schauderte. »Du warst
oben? Ich dachte, du gehst nicht hinauf.«
»Ich gehe ungern hinauf«,
stellte er klar. »Aber zum Jahresfest stehle ich mich immer nach oben.« Er lachte
auf. »Stehlen, das ist das richtige Wort. So feine, leckere Sachen sehe ich das
ganze Jahr nicht.«
Sallie schüttelte sich heftig.
»Du weißt nicht, wie es ausgegangen ist. Oh, es war so schrecklich!«
Redzep begann eine kleine,
eintönige Melodie zu pfeifen. »Es geht immer so aus«, sagte er nach einer Weile.
»Warum auch nicht? Nicht nur die Ratte, auch der Wolf hat Hunger.«
Sallie ließ seine Hand los.
»Du bist wirklich verrückt«, sagte sie.
Redzep kicherte. »Soll ich dir
den Weg zeigen?«
Schweigend gingen sie eine
ganze Weile nebeneinander her. Dann richtete Sallie, die sich ein wenig beruhigt
hatte, wieder das Wort an ihren Begleiter: »Warum hast du den Raben einen
Verräter genannt? Es können doch nicht alle Verräter sein!«
»O doch, das können sie«,
erwiderte Redzep heftig. »Mein Volk wurde schon so oft verraten und verkauft,
verjagt und vergiftet, dass es kein Wunder ist, wenn wir uns kaum noch ans
Tageslicht wagen!«
Sallie war erschüttert über
die Wut und die Verzweiflung, die aus seinen Worten sprach. Sie griff wieder
nach seiner Hand und drückte sie. »Die Katzenkönigin ...«, begann sie.
»Katze«, spuckte Redzep. Seine
Finger zuckten heftig.
»Was hat sie dir getan?«,
fragte Sallie verblüfft, denn Redzep hatte bisher nicht schlecht von der Katzenkönigin
gesprochen.
Er knurrte leise. »Sie war nie
böse zu uns«, gab er dann beinahe widerwillig zu. »Aber sie ist eine Katze, und
es wäre dumm, wenn ich das vergesse. Mein Volk würde es mir nicht danken.«
»Ach, Redzep«, seufzte Sallie.
»Weißt du, ich glaube, dass sie meine Mutter ist.«
»Und der Wolf ist dann ganz
sicher dein Vater«, zog er sie lachend auf.
Sallie sehnte sich nach ein
wenig Licht, um sein Gesicht zu sehen. »Es ist immer so finster hier, ich
wünschte, ich könnte etwas sehen«, beklagte sie sich, und mit ihren Worten erhaschte
sie einen Schimmer der Gestalt, die neben ihr ging. Sie konnte die Quelle des
Lichtes nicht erkennen, aber es wurde mit jedem Schritt ein wenig stärker, bis
sie Redzeps Gestalt in seiner zerlumpten Kleidung und mit seinem Gesicht als
hellen Fleck mit dunklen Augenlöchern neben sich auftauchen sah. »Wie schön«,
sagte sie erleichtert, denn sie lief jetzt
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