Der Nebelkönig (German Edition)
dachte nicht an die
Geschehnisse der vergangenen Nacht, während sie durch den Küchengang lief. Erst
als sie die Tür zur Küche aufstieß, kehrten die Bilder zurück und bannten sie
auf der Stelle. Imer, der über dem Tisch zusammenbrach. Das Serviermädchen, das
vom Wolf über den Boden geschleift wurde ... Sallie keuchte und wollte
kehrtmachen, aber dann sah sie etwas, das sie erstarren ließ.
Hinten am großen Backofen saß
Imer und biss in ein großes Butterbrot. Er schaute sie an und schluckte. »Hallo
Sallie, du bist ja schon auf«, rief er. »Hast du auch Hunger? Komm her.«
»Imer«, flüsterte Sallie. Sie
traute ihren Augen nicht, aber es war Imer, der ihr zulächelte, der winkte, der
zwar ein wenig blass und übernächtigt aussah, aber dennoch quicklebendig, gesund
und munter.
Sallie betrat die Küche und
erschrak ein zweites Mal. Dort vor dem Topfschrank kniete der Gehilfe, der
neben Imer gestanden hatte. Sie hatte ihn in seinem Blut auf dem Boden liegen
sehen, aber nun sortierte er Töpfe, als hätte er nie etwas anderes getan. Und
dort betrat gerade Frau Lulezime die Küche. Auch sie sah müde aus, doch sie
schritt so geschäftig wie immer aus und zählte im Gehen die silbernen Löffel,
die sie in der Hand hielt.
»Imer«, sagte Sallie atemlos
und ließ sich neben dem Koch auf einen Schemel fallen. »Imer, geht es dir gut?«
Er lachte ein wenig heiser und
rieb sich den Hals. »Hab wohl ein bisschen zu tief in den Becher gesehen«, gab
er reumütig zu. »Und Halsschmerzen habe ich auch. Aber Meister Korben wird mir
da schon helfen können.« Er lachte wieder. »Am Tag nach dem Großen Fest hat der
Apotheker immer alle Hände voll zu tun.«
Sallie nahm das Stück Brot,
das er ihr reichte. »Imer«, sagte sie, und wusste nicht recht, wie sie es
formulieren sollte, »Imer, erinnerst du dich an das Fest?«
Der Koch trank aus dem Becher,
der neben ihm auf der Ofenbank stand. Seine Augen musterten sie über den Rand
hinweg. »Was meinst du?«, fragte er zurück.
»Das Ende«, sagte sie. »Wie
die Feier aufhörte.«
Er klopfte die Krümel von
seiner Schürze und stand auf. »Wie soll die Feier schon aufgehört haben? Wir
haben alles aufgeräumt und dann selbst noch ein bisschen gefeiert.« Er ächzte
und zwinkerte. »Wobei ich wohl übertrieben habe, wie ich zugeben muss. Du warst
da schon brav im Bett, hm?« Er nahm seinen Becher und ging damit zum Spülstein.
Sallie rieb sich über die
Stirn. Ohne Zweifel waren einige der Leute, die sie hatte sterben sehen, heute
wohl und munter auf den Beinen. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? »Der
Wolf«, sagte sie leise. Sie stand auf und ging zu Imer, der pfeifend den Becher
abtrocknete. »Und was war mit dem Wolf?«
Er kniff die Augen zusammen.
»Welcher Wolf? Wovon redest du?«
Sallie hob die Schultern und
ließ sie wieder fallen. »Schon gut«, murmelte sie. »Ich habe schlecht geträumt.«
Mit einem Lachen klopfte der
Koch ihr auf den Kopf. »Und du hast ein oder zweimal am Punsch genippt, gib es
zu.«
Sallie verzog ihren Mund zu
einem Lächeln, nach dem ihr nicht zumute war. Es war ihr unheimlich mit all den
Doch nicht Toten in der Küche, und der Ratschlag des Raben fiel ihr ein.
»Frau Lulezime«, rief sie und
lief hinter der Wirtschafterin her, die gerade wieder durch die Küche ging,
leise murmelnd und etwas in ihr Büchlein notierend. »Frau Lulezime, habt Ihr
einen Moment Zeit für mich?«
Mit zusammengekniffenen Lippen
blickte die Wirtschafterin auf. Ihre Augen waren gerötet, und auch sie sah aus,
als hätte sie Kopfschmerzen. »Ja, Sallie?«, fragte sie geduldig.
»Der Apotheker«, sagte Sallie,
»also, Meister Korben – er hat mich gefragt, ob ich ihm helfen kann. In der
Apotheke.«
»Jetzt?«, fragte Frau
Lulezime. »Nun ja, er hat immer viel zu tun, wenn das Jahresfest vorüber ist.
Gut, meinetwegen kannst du ihm helfen.« Sie schaute in ihr Büchlein und machte
einen Haken hinter etwas, das darin geschrieben stand. Dann sah sie wieder auf.
»Ja?«
Sallie verschränkte die Hände.
»Nein, das meinte ich nicht. Ich möchte bei ihm bleiben. Als seine Gehilfin.«
»Also für immer.« Frau Lulezime
klang ein wenig missbilligend. »Ich dachte, du freust dich auf deine neue
Aufgabe als Serviermädchen?«
Sallie zwang sich, ihre
verknoteten Finger wieder zu lösen, und knüllte stattdessen an ihrer Schürze
herum. »Ich ... es war sehr aufregend, beim Großen Fest zu servieren.« Sie
wusste nicht, was sie sagen sollte, denn die
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