Der Nebelkönig (German Edition)
schon so lange blind durch den
Keller, dass sie beinahe befürcht hatte, ihre Augenlider wären zugewachsen.
»Siehst du mich?«, fragte
Redzep undeutlich. Er hielt etwas in seiner freien Hand, in das er gelegentlich
hineinbiss.
»Ja«, erwiderte Sallie. »Und
ich glaube, das Licht wird sogar noch heller. Wo kommt es eigentlich her?«
Er wandte ihr das Gesicht zu
und lachte wieder. »Ich habe dir doch gesagt, es ist ganz einfach!«
Sallie starrte ihn an. Er war
unglaublich schmutzig, sein Gesicht, seine Hände und seine Lumpen waren über
und über mit dunklen Flecken und Spritzern bedeckt.
»Wie siehst du denn aus?«,
fragte sie, und dann wurde das Licht noch heller, und Sallie erkannte, was das
für Flecken waren, und schrie auf.
»Was hast du denn?«, fragte
Redzep und leckte sich die Finger ab.
Sallie rieb die Hände an ihrem
Rock und versuchte nicht darüber nachzudenken, was Redzep sich gerade mit
seinen blutverschmierten Fingern in den Mund gesteckt hatte. Ganz sicher hatte
er nur Speisereste von herrenlosen Tellern gestohlen. Sie schüttelte sich.
»Dort geht es hinauf«, sagte
er. »Siehst du? Hier haben wir uns das erste Mal getroffen.«
Sallie erkannte den Platz und
seufzte erleichtert. »Danke, Redzep«, sagte sie. Sie wollte, dass er fortging
und sie allein ließ. Es war zu viel, was ihr in den letzen Stunden begegnet
war, und sie fühlte sich müde wie ein Stein und gleichzeitig so hellwach, dass
jedes Geräusch in ihren Ohren so laut wie Donner widerhallte. Sie musste jetzt
dort hinauf und einen Platz finden, an dem sie schlafen konnte. Würde sie es
wagen, zu schlafen, wenn der Wolf durch die Gänge des Hauses strich, mit
geiferndem Maul und blutgierigen Zähnen? Sie wusste es nicht.
Sie drehte sich zu Redzep um,
weil sie ihm noch einmal – diesmal etwas weniger schroff – für seine Hilfe
danken wollte, aber der Junge war in einem der Gänge verschwunden.
Sallie stahl sich die Treppe
hinauf und huschte durch die Gänge. Hier kannte sie jeden Stein, jede Fuge des
Bodens, jede Tür und jede Nische, aber heute erschien ihr alles fremd, kalt und
unheimlich. Sie erschrak vor Schatten in den Ecken und dem Echo, das ihre
Schritte machten. Es war still – totenstill.
An der Küche, aus der kein
Laut drang, rannte sie vorbei und stieß die Tür zum Garten auf. Sie hatte jedes
Gefühl für die Zeit verloren, die vergangen war, aber im Garten war es dämmrig
und kühl wie am frühen Morgen. Sie streifte an den Sträuchern vorbei und wusch
ihre Finger im kühlen Tau.
Als sie den Platz unter dem
alten Kirschbaum erreichte, erschrak Sallie. Die Stille im Haus und die
unbestimmte Zeit, die sie im Zwischenreich und danach im Keller verbracht
hatte, hatten ihr das Gefühl vermittelt, mutterseelenallein zu sein, ohne eine
andere lebende, atmende Seele im Haus und den Gärten. Aber im Gras unter den
weit ausladenden Ästen lagen zwei ihrer Freunde. Rot und schwarz, lang
gestreckt und eng zusammengerollt, Kaltrina und Luan.
Luan hörte auf, seine Pfote zu
lecken, und sah auf, als er ihre Schritte vernahm. Kaltrina öffnete träge ein
Auge und setzte sich auf, nun, da sie Sallie erkannte. »Den Göttern sei Dank,
du bist es«, sagte sie.
»Wir hatten Angst, dass er
dich getötet haben könnte«, setzte Luan ernst und voller Wärme hinzu. Er stand
auf und strich um ihre Beine. »Ben hat uns gesagt, du würdest beim Großen Fest
servieren und wärst durch nichts davon abzubringen.«
Sallie streichelte ihm über
den Rücken und hielt dann inne. »Ich weiß gar nicht, wer ihr seid«, sagte sie
erschöpft. »Aber bei wem beklage ich mich – ich weiß ja nicht einmal genau, wer
ich bin!«
Luan maunzte mitleidig. »Mein
armes Mädchen, dasmuss sehr anstrengend sein«, sagte er schnurrend.
Gedankenverloren kraulte ihn
Sallie zwischen den Ohren.
»Luan, sei ein Mal in deinem
Leben ernst«, fauchte Kaltrina. Sie schüttelte sich heftig, und als das
Schütteln aufhörte, saß die fremde rothaarige Frau neben Sallie im Gras und
nahm ihre Hand. »Liebes, das muss dir alles sehr seltsam vorkommen«, sagte sie.
»Aber nimm es uns nicht übel. Wir müssen sehr, sehr vorsichtig sein, damit ER
uns nicht entdeckt.«
Sallie entzog ihr die Hand.
»Ich möchte wissen, was hier vor sich geht«, sagte sie streng. »Was erwartet
ihr von mir?«
Kaltrina glitt hinüber in ihre
andere Gestalt und wechselte einen Blick mit Luan. Sie seufzte.
»Wir sind hier, um IHN
unschädlich zu machen«, sagte Luan.
Kaltrina
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