Der Nebelkönig (German Edition)
Aufmerksamkeit nicht
auf das Küchenpersonal gerichtet hatte. Das ist jetzt vorbei.«
»Was soll ich tun?«, fragte
Sallie. Er schwieg.
»Du hast doch IHR Buch,
oder?«, fragte er dann.
Sallie lachte. »ER und SIE«,
sagte sie beinahe vergnügt. »Was ist das für ein dummes Theater? ER ist ein
böser, großer Wolf mit schrecklich vielen Zähnen. Was ist SIE? Ein ganz normaler
Mensch?«
»Eine Menschenfrau«, sagte er.
»Aber keine ganz gewöhnliche Frau, nein. Sie ist ... Sonne und Regen. Gewitter
und Sturm. Lachen und Weinen. Stärke und Sanftmut. Zärtlichkeit und Hoffnung.«
Seine Stimme wurde brüchig. »Ich vermisse sie so sehr, Sallie. Ihr alle lebt
ohne Zeit. Ich bin einer der drei, denen diese Gnade nicht gegönnt ist.«
»ER ist auch einer der drei«,
folgerte Sallie, die nicht verstand, wovon der Mann sprach, und dennoch –
wusste. Etwas wusste, das sie nicht in Worte fassen konnte. Tief in ihrem
Inneren schien sich etwas zu verbergen, das hin und wieder aufblitzte wie ein
Strahl reinen Sonnenlichts, um sich gleich wieder zu verfinstern. Sallie fühlte
dem nach, aber sie bekam es nicht zu fassen.
»Er ist einer der drei –
Bardh, der Wolf«, bestätigte der Mann.
»Der Nebelkönig«, flüsterte
Sallie.
Wieder schwiegen sie. Sallie
schloss die Augen und erinnerte sich an ihre Traumbilder. Sie sah die Katzenkönigin
und den großen Mann, der Bardh hieß – auch wenn er in ihrem Traum kein Wolf zu
sein schien. Und da war der andere Mann, der kleinere ... Sallie unterdrückte
einen Ausruf. Seine Stimme war es, die sie in diesem finsteren Gelass
wiedererkannt hatte. Der Mann aus ihrem Traum war hier, er saß neben ihr, sie
spürte ihn atmen, sie hörte das Rascheln, mit dem er sich bewegte! War dies
wieder nur ein Traum? »Kneif mich«, sagte sie.
»Was?«, fragte er verdutzt.
»Warum – na gut.«
Sallie gickelte und schlug
seine Hand weg. »Aua«, sagte sie. »Hör auf. Danke, das reicht. Gut, ich bin
wach.«
»Du hättest mich einfach
fragen können«, sagte er. Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme.
»Rabe und Wolf«, sagte Sallie,
der wieder etwas aus ihrem Traum einfiel. »Du bist der Rabe!«
»Woher weißt du das?«, fragte
er nach einer verblüfften Pause.
Sallie war zu aufgeregt, um
ihm zu antworten. »Sie hat gesagt, ich solle den Raben fragen«, sprudelte sie
heraus und drehte sich, um seine Hand zu ergreifen. »Ich weiß nur nicht, wonach
ich dich fragen soll. Weißt du es?«
Er stöhnte leise, als hätte er
Schmerzen. »Nein«, erwiderte er dann zögernd. »Nicht genau. Aber vielleicht ...
warte, mein Mädchen, lass mich nachdenken. Ich darf keinen Fehler machen. Wir
können uns keine Fehler mehr erlauben.«
Sallie schwieg und wartete.
Ihr Herz schlug fest und schnell. Das war alles so verrückt und seltsam, es konnte
eigentlich nur ein Traum sein. Aber sein Kneifen hatte wirklich geschmerzt, und
das sollte es im Traum doch eigentlich nicht tun. Oder?
»Sarah – Sallie«, sagte er,
und sie zuckte zusammen. »Hör mir gut zu. Wir werden jetzt gehen. Du wirst in
die Küche zurückkehren. Du wirst Frau Lulezime sagen, dass du das Angebot des
Apothekers annimmst.«
Sallie schlug die Hände vors
Gesicht. »Aber sie sind doch alle tot«, jammerte sie.
Seine Hand schüttelte sie
nicht besonders sanft. »Hör mir zu«, sagte er scharf. »Du wirst ihr sagen, dass
du das Angebot annimmst, als Gehilfin des Apothekers zu arbeiten. Dann holst du
deine Sachen aus dem Schlafsaal. Denk an das Büchlein, hörst du? Alles andere
ist unwichtig, aber das Büchlein darfst du nicht vergessen. Und dann geh zur
Apotheke.« Seine Stimme verstummte. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er dann
gepresst. »Schaffst du es alleine oder soll ich dir helfen?«
Seine Stimme klang, als hätte
er Schmerzen.
»Ich weiß nicht.«
»Du musst es alleine schaffen.
Es tut mir leid. ER ru...ft mi...« Die Stimme verklang mit den letzten Worten
in weiter Ferne.
»Rabe«, rief Sallie und
tastete umher. »Rabe, lieber Rabe, lass mich nicht im Stich!«
Niemand antwortete ihr. In
hilfloser Wut schlug Sallie gegen die Wand. »Ich finde die Tür nicht«, schrie
sie. »Tür, wo bist du? Lass dich finden!« Wieder schlug sie gegen die Wand und
spürte, wie sich unter ihrer Faust etwas bewegte. Sie strich aufgeregt über die
Wand, die mit einem Mal glatt und warm war wie Holz. Dann trafen ihre Finger
auf Metall, einen runden Knopf, den sie mit beiden Händen ergriff. Sie rüttelte
daran und drückte mit ihrem ganzen
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