Der Nebelkönig (German Edition)
sie befestigt
sind? Aber sei vorsichtig«, fügte sie eilig hinzu, »denn es kann sein, dass
dort der Wolf lauert!«
Sie spürte, wie der Rabe auf
ihrem Arm landete und vorsichtig an den Handfesseln rüttelte. »Das sieht böse
aus«, hörte sie ihn sagen. »Du musst Schmerzen haben.«
»Ich halte es aus«, gab sie
zurück. »Es gibt Wichtigeres. Eil dich, Rabe! Wir haben wenig Zeit.«
Sie hörte seine Flügel
schlagen, dann war er fort. Sallie spürte plötzlich das Gewicht der Einsamkeit
schwerer als die Eisenfesseln auf sich lasten. Sie wünschte sich eine
Berührung, den Laut einer Stimme in dieser schrecklichen Einöde. »Rabe«, schrie
sie, »komm zurück!«
Niemand antwortete ihr, und
sie wusste nicht, ob sie sich die Stimme des Raben nur eingebildet hatte.
Seufzend hob sie ihre schmerzenden Hände, packte die Ketten und setzte ihren
Weg fort.
17
Schritt um Schritt schleppte
Sallie sich durch das nebelverhüllte Reich des Wolfes. Die Ketten blieben immer
gleich lang, die Umgebung änderte sich nicht, nur Sallies Erschöpfung nahm zu, bis
sie vor Müdigkeit zu taumeln begann.
Sallie ließ die Ketten zu
Boden rasseln und stand mit hängenden Schultern da. Ihre Handgelenke schmerzten
schrecklich, und von ihren tauben Fingern tropfte warm und klebrig etwas herab,
das nur Blut sein konnte.
Sie hob den Kopf und rief:
»Hallo!« Es war ihr gleichgültig, ob sie damit den Wolf herbeirief – das war
immer noch besser, als Ewigkeit um Ewigkeit weiter blind durch den Nebel zu tappen.
»Haaaallooooo!«, schrie sie wütend. »Komm her, du Feigling. Bardh, der Drückeberger!
Komm und stell dich, du räudiger Hundeschwanz!«
Sie glaubte ein fernes Lachen
zu hören und riss wütend an den verfluchten Fesseln. »Lass mich los, du
Feigling. Lass – mich – los!« Bei jedem Wort ruckte sie heftig an den Ketten
und ignorierte die Schmerzen, die ihr das bereitete.
»Sachte«, sagte der Rabe.
Sallie zuckte zusammen, denn sie hatte ihn nicht kommen hören. »Sachte, meine
Liebe. Du beschimpfst den Falschen für diese Fesseln.«
Sallie ließ ab, daran
herumzureißen, und sah den Raben verdutzt an. »Was meinst du?«
Der Vogel wirkte so erschöpft
und zerzaust, wie Sallie sich fühlte. Er streckte ein Bein aus und zog es mit
einem schmerzlichen Laut wieder an den Leib. Die Bewegung erinnerte Sallie an
etwas, aber sie kam nicht darauf, was es war, und es schien jetzt auch nicht
wichtig. »Sag schon, Rabe. Wer hat mich gefesselt, wenn nicht der Wolf?«
»Ja, sag es ihr«, erklang eine
zweite Stimme, und eine vertraute Gestalt schälte sich aus dem Nebel. Sallie
schaute in die amüsiert funkelnden gelben Augen und biss die Zähne zusammen.
Wie konnte er es wagen? Wie konnte er in der Gestalt des jungen Prinzen hier
vor ihr erscheinen und sie verhöhnen?
Der Rabe erstarrte. Vor
Schreck? Vor Angst?
»Bardh«, sagte Sallie. »Was
willst du von mir?«Der junge Mann umrundete sie gemächlich und musterte sie vom
Zopf bis zu den Pantinen. Abschätzig? Mitleidig? Sie konnte es nicht sagen.
Sallie biss erneut die Zähne zusammen. Sie war Sarah Sallie, einst Küchenmädchen
und jetzt Gehilfin des Apothekers. Das war nicht viel, aber es war nun einmal
das, was sie war. »Was willst du, Bardh, der Wolf?«
»Diese Erscheinung, die du
gewählt hast, ist lächerlich«, sagte er. Er war hinter ihrem Rücken verschwunden,
und Sallie war zu stolz, um sich wie ein Kreisel mit ihm zu drehen. Deshalb
wartete sie, bis er vor ihr wieder auftauchte. Sollte er sich doch zum Narren machen,
sie tat es nicht!
»Rabe!«, zischelte sie. Der
Vogel hüpfte einen Schritt zurück und tauchte unter im Nebel. Sie sah nur noch
einen undeutlichen schwarzen Schemen, dessen Größe und Form sich ständig zu verändern
schienen.
Wer hält mich gefangen?,
fragte sie sich. Ihre Gedanken tanzten wild durch ihren Kopf. Der Graf hatte
sie festgehalten, immer fester, und nun fand sie sich plötzlich hier, in Ketten
gelegt. Wer sonst sollte das getan haben?
Aber der Graf hatte Sarah, die
Tochter des Kammerherrn, festgehalten, dachte sie mit einem Mal. Nicht mich,
nicht Sallie, die Gehilfin des Apothekers! Und mit diesem Gedanken wurde ihr
ganz leicht ums Herz. Sie spürte, wie die linke Fessel sich löste und lautlos
zu Boden fiel. Sallie unterdrückte einen erleichterten Seufzer und sah sich nun
doch um. Wo war er? Wohin war der Nebelkönig verschwunden?
»Hier bin ich, meine
Freundin«, wisperte es in ihr rechtes Ohr. Dieses Mal
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