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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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wurden
durchscheinend und verschwanden, während der Griff um ihre Handgelenke sich
nicht lockerte. Sallie wand sich und zerrte an den klammernden Fingern, die
sich tiefer und tiefer in ihre Arme bohrten, und schenkte der langsam
verschwindenden Umgebung nur flüchtige Beachtung. Nebel senkte sich über sie herab.
Dichter Nebel, in dem sie kaum noch ihre eigenen Füße sehen konnte. Und was
auch immer da ihre Arme umklammert hielt – es waren keine menschlichen Hände.
Sallie stand stocksteif und still und beruhigte ihren Atem. Der Nebel war kalt
und klamm, aber ihre heftige Gegenwehr hatte sie ins Schwitzen gebracht.
Vorsichtig bewegte sie ihre Finger. Der eisenharte Griff drückte ihr die
Knochen zusammen, spitze Zähne bohrten sich schmerzhaft in ihr Fleisch.
»Bardh?«, sagte sie fragend. »Lass mich los.« Die Vorstellung, dass der Wolf
ihre Handgelenke zwischen seinen reißenden Zähnen hielt, ließ sie erzittern.
Aber sie spürte nichts Atmendes, Lebendes in ihrer Nähe, sondern nur Stille und
Kälte.
    Niemand antwortete ihr. Sallie
blinzelte den Schweiß aus ihren Augen und sah sich um. Nebel, so dicht, dass
sie ihn zu spüren glaubte. »Wir sind wieder im Turm«, sagte sie mit plötzlicher
Erkenntnis. »Ich bin Sallie, die Gehilfin des Apothekers, und wir sind im Turm.
Alles andere war Traum und Lüge.«
    Wie bedauerlich. Es hatte sich
angenehm angefühlt, das Fräulein Sarah zu sein, die Tochter des gnädigen Herrn.
Sallie schüttelte das Bedauern ab wie Wassertropfen und konzentrierte sich auf
das, was so schmerzhaft ihre Hände umschloss. Sie bückte sich über ihre
Handgelenke, bis sie mit der Nase beinahe anstieß, und erkannte eiserne
Fesseln, die mit dicken, scharfen Dornen gespickt waren. Von den Fesseln gingen
lange Ketten aus, die hinaus in den Nebel führten.
    Sallie hob die Hände mit den
schweren, schmerzhaften Gewichten, griff mit jeder Hand nach einer Kette und
begann sich daran entlangzuarbeiten. Irgendwo mussten sie schließlich befestigt
sein. Sie ging eine Weile durch den Nebel, nur geleitet von den Eisenfesseln,
bis sie bemerkte, dass die Ketten immer in der gleichen Länge vor ihr im Nebel
verschwanden, obwohl sie längst eine Schleppe aus Eisen hinter sich hätte
herziehen müssen. Sallie blieb stehen und zog an den Ketten. Sie gaben ein
wenig nach, blieben aber straff gespannt. Es war nicht möglich, in eine andere
Richtung oder gar ganz zurückzugehen, sie war gezwungen, entweder auf der
Stelle zu verharren oder weiter voranzulaufen.
    »Ins Maul des Wolfes«, sagte
Sallie grimmig zu sich. »Also, auf, Sallie, Gehilfin des Apothekers.« Diese
Worte, mit denen sie wieder loszugehen begann, versetzten ihr einen kleinen
Stich. Der Apotheker, der sie angegriffen hatte, der versucht hatte, sie am
Betreten der Bibliothek zu hindern. Er war ein Gefolgsmann des bösen Königs,
also was hatte sie erwartet? Dennoch schmerzte sie der Gedanke – und zwar
weitaus mehr, als sie selbst gedacht hätte. Es verband sie schließlich kaum
etwas mit Korben.
    Sallie schüttelte diesen
Gedanken ab und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag. Wenn am Ende ihres
Weges der Wolf auf sie wartete, würde sie sich gegen ihn wehren müssen. Aber
mit welcher Waffe? Sie besaß nichts außer den wenigen Dingen, die sie in ihrer
Schürzentasche bei sich trug. Im Geiste zählte sie sie auf: eine Kerze, ein
Taschentuch, ihr Spiegelchen, ein kleines Messer, um Äpfel zu schälen. Sallie
musste trotz ihrer misslichen Lage lachen. Dann würde sie den Nebelkönig, den
reißenden Wolf, eben damit bekämpfen. »Fort mit dir, du Unhold«, rief sie
vergnügt, »sieh mein tödliches Obstmesser und erzittere!« Sie lachte laut.
    »Da hat aber jemand gute Laune«,
erklang eine Stimme dicht neben ihrem linken Ohr. »Ich dachte, du brauchst
vielleicht meine Hilfe, aber wenn ich dich so höre ...« Mit den letzten Worten
entfernte sich die Stimme.
    »Bleib«, rief Sallie, »bitte
bleib! Ich kann jede Hilfe brauchen, die jemand zu verschenken hat!«
    Sie hörte ein missvergnügtes
Schnaufen. »Du scheinst den Ernst deiner Lage nicht recht zu verstehen«,
meldete sich die Stimme wieder neben ihrem Ohr zu Wort.
    Sallie blieb stehen und
wünschte sich eine freie Hand, um sich das Gesicht zu trocknen. Das Gewicht der
Ketten brachte sie ordentlich ins Schwitzen.
    »Rabe«, sagte sie – denn sie
hatte trotz des seltsam dämpfenden Nebels seine Stimme erkannt, »kannst du
vorausfliegen und herausfinden, wo die Ketten hinführen und wie

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