Der neue Daniel
unter der Last einer Dankesschuld plötzlich sinken ließ ... Wußte er, was er getan? Stand da ein Fordernder? – Oder war es einer, der Hilfe brauchte und sie sich, seltsam genug, gerade von der scheinbar abweisendsten Seite holte?...
Daß er sie damit in die fragwürdigste Situation ihres Lebens brachte; – sie Verwicklungen aussetzte, die ihr unerhört gedünkt; – daß sie sich seinetwegen mit ihren englischen Verwandten fastentzweit und jahrelange Freundschaften abrupt geopfert; daß sie Mißtrauen, Erstaunen, ja Verachtung geerntet, das zählte für diesen seltsamen Seelenräuber nicht mit, das steckte er ruhig in die Tasche... ja wußte er es denn überhaupt? – War er es wert? – –
Die Zikaden feilten draußen, so dünkte ihr, immer toller, immer entfesselter, und peinigten ihr schmerzendes Hirn. Nun lag er dort und riß sie mit sich in den trüben Strudel seiner Not hinein. Nun sperrte er sie mit in den Kerker, in dem er saß; nun konnte sie die Welt nur durch Gitterstäbe hindurch genießen und seine Kette würde auch an ihrem Fußknöchel rasseln. Nun zog er sie mit in den Bereich des Unflats, mit dem man alle Deutschen bewarf und brandmarkte. Nun setzte sie sich, angelsächsisch selbst, dem Zähneblecken desselben Puritanertums aus, dessen Schoß sie entsprungen.
War er das wert?
Auf einmal rief er ihren Namen.
Sie eilte hinüber. Er träumte. – Ein mildes Delirium schleppte ihr Bild wohl im purpurnen Fluß, der ihn umspülte, mit vorüber. Er hatte sie vielleicht entgleiten sehen und suchte sie vom Ufer aus zu bannen.
Sie saß an seinem Bett und wiederum überkam sie jener süße, unheimliche Zwang des Animalischen; Verwandtschaft von Haut und Haar, der sie stärker umgarnte als Klänge und Stimmen von sieben Meeren. Je geächteter er, desto Schutzeswerter durch sie. Doch wie, wenn noch viele solcher Nächte kämen? – Wenn sie wieder allein, in lauernder Hockstellung auf ihrem Bette sitzen müßte und Abwehrgedanken aus ihrem Spiegelbild schöpfen; – Gedanken, die sie beluden; die an ihr rissen wie entspreizte Schwungfedern?
Wie, wenn ein leiser Widerwillen sie wieder fassen würde gegen den Angehörigen einer Rasse, die (und sie dachte der Dinge, die sie lesen mußte Tag für Tag), – das Metall zum Fetisch erhob und sich von brutalen Herdenführern vergewaltigen ließ, statt die Freiheit des Einzelnen vor die Freiheit der Massen zu setzen? – – –
Des Grübelns und schmerzhaften Tastens nach einer Erlösung aus dem Labyrinth, darin sie sich versponnen, ward kein Ende, bis die Frühe graute.
Doch schien eine Stufe gewonnen; und eine Nacht wie diese mußte die folgenden leichter machen.
Amulette
Erwin saß, Kissen hinter den Rücken gestopft, halb aufrecht im Bett und folgte mit müden Blicken den Bewegungen Mildreds, die sich um ihn bemühte. Es war schon hoher Vormittag und der Doktor wurde in Bälde erwartet.
Das Fieber hatte ein wenig nachgelassen. Es ging in einer gleichmäßigen Abwärts-Kurve von der Nacht in den Morgen hinein, um am Abend wiederum zu schwellen.
Nachdem ihm Mildred etwas Tee und Zwieback verabreicht, ging sie, von einer qualvoll drängenden Unruhe getrieben, in das Erdgeschoß hinunter. Halb ohne es zu wissen, las sie die Kopfinschriften der »Times«. Siehe da, statt der üblichen Schützengraben-Fanfare, gewahrte sie, in schreienden Lettern, das Wort » Infantile Paralysis «.
Sie vertiefte sich unmutig in das Nähere und erkannte, daß die Seuche, die schon seit einer Woche in den versteckteren Spalten der Zeitung gespukt, sich nunmehr einen Hauptplatz auf der Titelseite erobert. Es ward hier natürlich keine Gelegenheit verabsäumt, um das Unglück auszuschlachten, ihm breiteste, mit Reporter-Wollust gewürzte Öffentlichkeit zu gewähren. Vielleicht war es nötig, in irgend einer Weise zu warnen; aber wieviele hysterische Mütter, wieviele abgehetzte Väter hatten diesen Brandalarm in hochgetürmter Druckerschwärze heute verschlungen! Welche Axtschläge waren das am Asyl stumpfen Bürgerglücks! – Und die Sensations-Hausierer setzten die doppelte Auflage ab. Hatte man nicht etwas erbeutet, womit man Wesens treiben konnte?! – Kinder starben wie die Fliegen. Manche fieberten, zuckten ein wenig und lagen mit Schaum vor dem Mund. Und die davonkamen, humpelten halb gelähmt durchs Leben ... Steinreiche Eltern versteckten ihre Augenweide in luxuriösen Landhäusern. Es half nichts; die Bazillen krochen aus allen Ecken und erbeutetensich junge
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