Der neue Daniel
sie die Augen schloß und nicht daran dachte.
Frachtzüge, über Brücken, rumpelten vorüber. Stahlgerüste stürzten ein und zersprangen auf Dächern von Blech ... Mildreds weißes Gesicht, bei jedem Blitz kalkfarben aufschimmernd, ruhte gespannt, mit senkrechter Brauenfalte, auf der Polsterung. Ihre kurze, feingebogene Nase stand spitz in die Höhe, und ihr entfuhr ein tief heraufgeholter, gewaltsam erzwungener Atem: ein Keuchen wie im Kampf, – und dann ein ermattetes, halbsingendes Saugen in eine langsam beruhigte Brust.
Erwin indessen blieb oben wach.
Er zählte die Blitze; dann gab er es auf. Sein Kopf ward seltsam leicht und klar ... In den Kreis seiner Vorstellungen, die alle etwas Mildes hatten, trat plötzlich Lia... Ob sie noch unten sitzt und betet? – Oder ob sie zur Salzsäule erstarrt ist wie jene andere, die hinter sich sah, da es Pech und Schwefel regnete? – – Womit hat sie sich gewappnet? Mit welchem Text? – – Ah... richtig... mit dem »Propheten Daniel«...
Was hat es doch für eine Bewandtnis mit diesem Daniel – ??
– – – Erwin grübelte. Auf einmal, ohne daß er sich des genauen Textes erinnerte, traten Bilder hervor; scharf wie aus leiblich erlebtem Gedächtnis; – Bruchstücke wie dieses: »Er betete dreimal täglich zu seinem Gott« – oder: »Er hatte aber an seinem Hause offene Fenster gen Jerusalem.« Er übertrat – das wußte Erwin genau – das Gebot der Meder und Perser. Dafür warf ihn der König zu den Löwen in die Grube; – doch die Löwen rührten ihn nicht an...
Wie sah doch diese Grube aus? – – Ha, jetzt weiß ich es!! Sie ist ein Zwinger am Fuß der Stadtmauer, die senkrecht ansteigt. Tagsüber wird sie ob ihren Zinnen und Wachtürmen vom brennend blauen Himmel gesäumt. Bei Nacht schneidet sie, schwarz und doppelt mächtig, quer durch Gruppen von Sternen hindurch.
Der Zwinger, aus massiven Quadern, macht ein Entkommen undenkbar. Ringsum droht glatte Wand; die Hand kann nur seine Ritzen ertasten, wo die Steine ineinandergefügt für die Ewigkeit gefesselt lasten.
Daniel geht hin und her, tastet, späht aus tiefliegenden Augen. Es ist Dämmerung. Wohin er greift, ist glatter Stein. Er ist verstoßen und mager; schmutzig und ein Kind trüben Dunkels. Mit allen Sinnen ist er eines unsagbar Grauenhaften gewärtig, das kommen muß; seine Versuche, zu fliehen, sind nur halb beherzt. Er lehntsich an die Mauer und steht reglos. Sein scharfes Gesicht – das Gesicht eines Raubvogels – sinkt nach vorn.
Denn er hat ein Geräusch gehört, das er mit den eigenen Sandalen nicht vollführen konnte; ein Schleppen oder Kratzen ... Und während seine Blicke die Dämmerung durchbohren, sieht er es fahl aufschimmern, dort in der anderen Ecke ... den schwachen Doppelstrahl von verwestem Grün.
Plötzlich heben sich Konturen ab, langgestreckte, gleitende, unheimlich veränderliche... Ein fließender Ring von schweigenden Silhouetten dreht sich um ihn.
Er erkennt sie deutlicher. Gelblicher Schimmer sich regender Pranken huscht über den Boden. Zuweilen streift ihn ein Hauch wie Kloakendunst: – Ausgemergelter Mägen gierige Leere stinkt aus blauschwarzen Schlünden. Es seufzt rasselnd; Luft aus schwülebeladenen Lungen wird entlassen; im Krampf zurückgeschlürft. Klauen schlagen auf, fächerartig aus weichen Ballen entfaltet. Und an den Schnauzen, die ihm entgegenbeben, entstehen Faltenkränze wie halbirres Grinsen. Unablässig geschieht der stumme Tanz, der Tumult weichwogender Rücken...
Und Daniel – – ?
Er sitzt jetzt am Boden und verschlingt die Hände über den spitzen Knien, deren Haut, vom Wüstensand zerschürft, dem Leder seiner Sandalen gleicht. Seine Augen drehn sich brennendnach den Schatten. – – Sein Kiefer knackt im Gelenk, während wilde Willensanspannung seines Halses Muskeln strafft, seine Stirnhaut herabzieht. – – »Ihr kommt mir nicht nahe...«, denkt er dabei. – »Ihr kommt mir nicht nahe...« – – Irgend etwas, fühlt er, feit ihn gegen die Tiere. – Und er blickt empor.
Dort, über dem Rand der Kluft, hängt jemand mit vorgebeugtem Leib. Ihm ist, als höre er das Geräusch schwingender Halsketten, die an den Stein schlagen, von schweren Atemzügen bewegt. Es ist ein leise klirrender Rhythmus. – Er schließt die Augen – : – »Es ist Nacht. – – Sonst würde es bunt dort blitzen.« ... Die ganze Zeit über, fühlt er jetzt, hat jener droben gehockt und gelauscht, gelauscht ...: – »Wann bersten die Knochen des
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