Der neue Daniel
Lia vorhin schrie, horchte ich an der Küchentür; dachte natürlich, sie würde weglaufen... Weißt du, was sie tut? Sie hat sich so klein gemacht, wie es nur geht, Kopf zwischen die Knie gesteckt, – und dabei deklamiert sie ein paar Verse aus dem Alten Testament,die sie zufällig erwischt hat... Von Daniel in der Grube oder sonst einem Propheten ...«
»Daniel –?–!«
»Ich glaube ja. – – Setz dich jetzt auf; wir wollen Halma spielen.« – – – Um das Haus rührte sich nichts. – Kaum ein leises Schwanken durchlief die Ahornblätter. Bald knatternd, bald gedämpft, in kleinen quälenden Pausen, ward die Atmosphäre zersplittert. Das glich Peitschenschlägen oder dem bösartigen Geräusch einer höllischen Kinderknarre, die ein Netzwerk von knisternden Strömen erzeugte. Das schwüle Gelbgrau des Himmels lastete schiefern und stumm. Zuweilen sprang im Wald mit tückischem Knall ein junger Fichtenstamm auseinander; brenzliche Gerüche zogen umher. – – – Ein leiser Choral drang dazwischen: – näselnde, krächzende Stimmen; verschwommen hörbar. – Irgendwo draußen an der Straße hatten sich einige Gemüter zusammengefunden und stellten sich, unter dem Vorsitz der Miß Palmer, in zäher Andacht unter Gottes Schutz.
– – – Erwin und Mildred begannen Halma zu spielen. Er vertiefte sich so in die kleinen Quadrate, daß er von dem Unwesen eine Zeitlang nichts spürte. Mit innigem Wohlbehagen nahm er die weiße, im Gelenk so energisch gestraffte Hand wahr, die die Figuren tastend setzte; sah nur ihren geneigten Scheitel, von dem die Haare ungebärdiger denn je wegstanden – so, als zögen Kräfte, die sich ob ihnenangesammelt, die seidene Kappe gleich einem Kranz spitzfingrig auseinander. Sein Blick tauchte an ihrem Kinn herab in den Ausschnitt ihrer Bluse, in die Grube zwischen ihren spröden jungen Brüsten ... Sonst hätte ihn dieser Einblick wie eine immerbereite Verheißung entzückt; heute sah er hinüber auf dies Spiel leichter Schultermuskeln wie auf etwas Totes und Mechanisches, auf eine bloße Krücke für seine trübe Hilflosigkeit... Die Vertiefung unterhalb der Kehle dort füllte sich in schneller Folge mit weicher Glätte oder sank schattig ein; seine Nasenflügel zitterten von heftigem Atem; die Lippen des herben Mundes standen trocken und halbgeöffnet. Auf einmal hob sich das schmale Gesicht mit gespanntem Ausdruck und die Augen sahen ihn an –: nicht mehr streng und meerfarben, sondern halbblind, verschleiert und von nie erblickten Äderchen gerötet. Es war ein Ausdruck unbedingter, seufzender Anheimgabe, als habe ein grausamer Schlag den schlanken Nacken matt und gefügig gemacht.
Wäre sein Blick nicht gleich dem ihren getrübt gewesen, so hätte er bemerkt, daß in ihre Stirn Falten krochen und daß ihre dunklen Brauen, von Zucken durchlaufen nach der Schlaflosigkeit dreier Nächte, in Schwebe zitterten. Es war, als balanciere Mildred, wie ein durch Überstunden geschwächter junger Artist, auf kurzem Stab eine Glaskugel, die sie nicht aus den Augen lassen dürfe, deren Fall ihr Ende bedeuten würde.– – – Noch eines hätte er bemerkt –: das hektische Rot, das zuweilen wie eine zarte Wolke ihre Wange durchschimmerte; der Puls, den er unter ihrem Ohr hüpfen sah; die Unruhe der schlanken Knie; die Geschwindigkeit der allzuleicht hingeworfenen Worte: – dies alles nahm seinen Ursprung von dem feinen Rand weißen Pulvers, der kaum sichtbar ihre Nüstern säumte. Der Körper versagte; doch jähe Sorge sog neue Kraft aus Giften ...
In Mildreds schwirrendem Ideentumult wechselte Erwins Bild, je nachdem halbgefälschte, balsamische Fröhlichkeit oder schwarze Gedankenschärfe es erschuf. Sie hielt geheime Zwiesprache mit Dem, der ihn wegreißen wollte. Sie sagte etwa: »Du bringst es nicht fertig,« – und lächelte tragisch-mokant dabei. »Er ist zu schwer. Auch ich habe Mühe, ihn über den Korridor in sein Bad zu schleppen. Er ist zu solid; sein Körper ist zu stark; seine Brust zu breit.« – – Und dann – mit ungeheurem Schluchzen tief innen, bei dem sie keinen Laut von sich gab, bei dem ihr nur die Ohren brausten: – »Würdest Du ihn doch wollen? Wozu? Habe ich die Hindernisse nicht genommen? Habe ich mich nicht ganz meiner selbst entäußert, um seinetwillen, nur um seinetwillen? – – Wo wäre da ein Sinn? Hätten wir uns trotz schauerlicher Verhetzung gefunden und zusammengeschlossen, wenn es umsonst gewesen sein sollte?? Wenn diese Erkenntnis des
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