Der neue Frühling
Erinnerungen angeboren, als würden sie mit dem Blut von der Mutter auf das Kind übertragen. Die Eiswinde, die durch die Städte der Großen Welt fegen – das edle Volk der saphiräugigen Reptilien harrt standhaft seinem Untergang entgegen… Die zarten Vegetalischen verdorren schon in den frühen Froststürmen… Die bleichen haarlosen rätselhaften Menschlichen, die man hin und wieder zu Gesicht bekommt, bewegen sich gelassen durch das sich verdichtende Chaos…
Und die Caviandis passen sich an, graben sich flache Tunnels, kommen nun wieder hier und dort hervor und brechen durch das Eis, das ihre Fischgründe bedeckte…
Mit Bewunderung begreift Hresh, daß diese Geschöpfe fähig waren, den Langen Winter ungeschützt im Freien zu überdauern. Während wir uns versteckt haben. In Felslöchern dicht zusammenhockten. Und jetzt, nachdem sie bis in den Neuen Frühling herüber überlebt haben, geschieht es ihnen, daß sie gejagt und totgeschlagen werden und wegen ihres Fleisches denen als Braten dienen müssen, die ganz zuletzt aus ihren sicheren Schlupflöchern hervorgekrochen kamen… Oder man fängt sie ein und steckt sie in einen Pferch, um sie zu studieren…
Und dennoch empfinden sie keinen Groll gegen ihn, Hresh, oder gegen seinesgleichen. Und diese Erkenntnis ist womöglich der erstaunlichste Fund.
Er öffnet sich ihnen so völlig, wie er kann. Er will, daß die Caviandis ihm direkt in die Seele schauen und darin lesen – und vielleicht begreifen, daß dort nicht Böses lauert. Er versucht, ihnen bewußt zu machen, daß er sie nicht hierhergebracht hat, um ihnen Schaden zuzufügen, sondern nur weil er danach verlangt, ihren Geist zu erreichen und zu berühren, was in ihrer angestammten Wildnis ihm nicht möglich sein würde. Ihr könnt jederzeit eure Freiheit, wiederhaben, wenn ihr wollt, sagt er zu ihnen – sogar heute noch –, nachdem ich erfahren habe, worauf ich gehofft hatte.
Diesem Anerbieten begegnen sie mit Gleichgültigkeit. Sie haben ihren kühlen rauschenden Bach; ihre gemütlichen bequemen Tunnels und Höhlen; es gibt Fische im Übermaß. Sie sind zufrieden. Wie wenig sie doch vom Leben erwarten. Und doch, sie haben Namen. Sie kennen die Geschichte dieser Welt. Wie seltsam sie sind, wie einfach und doch so komplex.
Jetzt scheint ihr Interesse an Hresh zu schwinden. Oder aber sie sind ermüdet. Er selbst spürt, daß seine Energiereserven zur Neige gehen, und weiß, er kann den Kontakt nicht länger aufrecht erhalten. Sein Bewußtsein durchzieht ein Grauschleier. Dann versinkt er im Nebel.
Es gibt natürlich viel, viel mehr, was er von ihnen erfahren möchte. Aber das wird warten müssen. Dies heute war bloß ein vielversprechender Beginn. Er läßt den Kontakt ausschwingen.
Morgengrauen. Schon. Der Tag der Dawinnischen Spiele, das alljährliche Jubiläum der Stadtgründung und Ehrentag des Schutzgottes und Namensgebers.
Vor dem Häuptling lag ein arbeitsreicher Tag. Aber im Grunde waren alle Tage so, arbeitsreich und voller Geschäfte; nur heute würde es noch schlimmer werden als üblich, denn heute sah sie sich auch noch einem Konflikt zweier Rituale gegenüber. Zufällig fielen die Eröffnung des Festivals und des Ritus der ‚Stunde Nakhabas’ auf diesen selben Tag, und Tanianes Anwesenheit war bei beiden Anlässen unumgänglich; leider mehr oder weniger zur gleichen Zeit.
Bei Sonnenaufgang mußte sie im Beng-Tempel die Kerze entzünden, um den Beginn der Nakhaba-Stunde zu zelebrieren. Dann mußte sie – auf ihren eigenen Füßen, nicht einmal eine Sänfte war erlaubt, um Demut vor den Gottheiten zu demonstrieren! – die ganze weite Strecke bis zum Koshmar-Park zurücklegen und die Spiele offiziell für eröffnet erklären. Und dann wieder zu den Bengs zurück, um sicherzustellen, daß Nakhaba der Wiedereintritt in die Welt nach seiner Höhenfahrt in Höchste Regionen, um den Erschaffer zu besuchen und mit IHM die Weltprobleme zu besprechen, auch gut gelungen sei. Und dann wieder rüber zu den Dawinno-Spielen, um das Präsidium bei den Athletikwettkämpfen des Nachmittags zu übernehmen.
All diese Götter! Und diese ganzen Zeremonien!
In früheren, schlichteren Zeiten wäre ein Teil der Pflichten Boldirinthe zugefallen. Aber Boldirinthe war nun alt und sehr fett, überdies wurde sie mit der Zeit ein wenig töricht, und außerdem, wie hätte Boldirinthe ein Beng-Ritual zelebrieren können? Den Beng bedeutete sie nichts. Die Opferfrau hatte eigentlich nur noch eine gewisse,
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