Der neue Frühling
zu tun, schon gar nicht, sich einen Kopulator zu nehmen. Nein, sie konnte tun und lassen, was ihr beliebte. Alle hatten das hinzunehmen.
Tatsächlich aber war Thu-Kimnibol der Wahrheit ziemlich nahe gekommen. Ihr Einzug ins Haus Nakhabas war wirklich eine Art Protest gewesen; wogegen allerdings, dessen war sie sich selbst nicht sicher. Seit ihrer Rückkehr von den Hjjk war sie von einer groben, tiefinnerlichen Unrast erfüllt gewesen, von wachsender Ungeduld gegenüber allen herkömmlichen Sitten und Gebräuchen der Stadt. Ihr kam es so vor, als sei das VOLK vom rechten Pfad abgeirrt. An Maschinen hängte man jetzt seine Liebe, an Bequemlichkeit und Luxus, und ganz besonders vergötterte man dieses neue Konzept, das sie Wechselkurse und Aktienanteile nannten und das es den Reichen erlaubte, die Armen zu kaufen. Da ist etwas faul, hatte sie immer häufiger gedacht, und da sie über keine Macht verfügte, den Lauf der Stadt zu ändern, ertappte sie sich immer häufiger bei stummen, heimlichen Akten der Rebellion dagegen. Die anderen hielten sie für eigensinnig und aufmüpfig. Aber was die von ihr halten mochten, spielte weiter keine Rolle für sie. Der Aufenthalt unter den Hjjk hatte ihre Seele in einer Weise verändert, wie sie kein anderer begreifen konnte, ja, sie selbst begann erst jetzt und allmählich, damit ins reine zu kommen.
Es pochte wer an der Tür: Nialli Apuilana öffnete einem feisten, nach Atem ringenden Gerichtsbeamten, für den offensichtlich die Kletterpartie ins oberste Stockwerk des Nakhaba-Hauses an einem so warmen Nachmittag eine allzu große Herausforderung bedeutet hatte. Der Mann troff von Schweiß. Sein Fell klebte in steifen Büscheln, und seine Nüstern bebten, während er versuchte zu Atem zu kommen. Die Atmosphären und Rangabzeichen hingen schief und triefnaß an ihm herum.
»Nialli Apuilana?«
»Du weißt doch, daß ich das bin. Was willst du von mir?«
Ein schniefendes Keuchen. »Vorladung in die Basilika.« Wieder Keuchen und das Bemühen, sich den klitschnassen Pelz glattzustreichen. Noch ein Keuchen und Schnaufen. »Auf Anordnung von Husathirn Mueri, derzeit amtierender Gerichtsoberling.«
»In die Basilika? Wieso? Wirft man mir ein Vergehen vor? Glaubt Seine Lordschaft Husathirn Mueri das etwa? Werde ich vor Gericht gestellt?«
Der Gerichtsdiener gab keine Antwort. Er glotzte mit klaffendem Maul an ihrer Schulter vorbei in ihr Zimmer. Kahl wie eine Gefängniszelle: fast keine Möbel, nur eine niedrige Pritsche, ein kleiner Stapel Bücher auf dem Boden und als einziger Schmuck ein aus Gras geflochtenes sternförmiges Amulett, das Nialli Apuilana aus der Hjjk-Gefangenschaft mitgebracht hatte und das nun an der kalkweißen Wand, der Tür direkt gegenüber, prangte wie ein Siegeszeichen, das dort von den Wanzenleuten höchstselbst angebracht worden war.
»Ich hab dich gefragt, ob ich eines Vergehens beschuldigt werde.«
»Nein, meine Dame. Nein.«
»Also, warum werde ich dann vor Gericht zitiert?«
»Weil… weil…«
»Wohin glotzt du denn die ganze Zeit so? Hast du noch nie einen Hjjk-Stern gesehen?«
Der Gerichtsdiener wandte schuldbewußt den Blick ab und begann sich unsicher mit hastigen Bürststrichen das Fell zu glätten. »Seine Lordschaft Gerichtsoberling ersucht dich um deine Mitarbeit, mehr nicht«, platzte er schließlich heraus. »Als Gerichtsdolmetscherin. Man hat einen Fremden gefangen und in die Basilika gebracht… einen jungen Mann, und der kann anscheinend keine andre Sprache als die der Hjjkse…«
In Nialli Apuilanas Seele erhob sich ein plötzliches betäubendes Sausen. Ihr Herz begann zu rasen, schmerzhaft, so daß sie fast Angst bekam.
Solch ein Trottel! Braucht der so lange, um sie zu informieren!
Sie packte den Gerichtsdiener an einer Schärpe. »Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?«
»Das war ja nicht möglich, meine Dame. Du…«
»Es muß ein heimgekehrter Gefangener sein. Du hättest es mir sofort sagen müssen!«
Aus den untersten Tiefen der Erinnerung schossen Bilder herauf. Überwältigende Visionen von jenem Tag, an dem alles zerspellte und ihr Leben verändert worden war.
Sie sah sich selber, jünger, bereits langbeinig und weibsgeschmeidig, doch mit noch kaum knospenden Brüsten, unschuldig die blauen Chilly-Blüten in den Bergen jenseits der Mauern der Stadt pflücken. Es war am Tag nach ihrem ersten Tvinnr. Und dann: Schwarzgelbe Gestalten mit sechs Gliedmaßen, fremdartig und schrecklich, größer als irgendein Mann in
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