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Der neue Frühling

Der neue Frühling

Titel: Der neue Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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der Stadt, größer sogar als Thu-Kimnibol, brechen ohne Vorwarnung aus einem tiefen Spalt im gelblichen Fels hervor. Entsetzen. Starre Ungläubigkeit. Die ganze sichere Welt, wie sie sie dreizehn Jahre lang gekannt hatte, zerbrach um sie herum in Trümmer. Scharfschnäblige Schädel von Ungeheuern, riesige vielfacettierte Augen, mehrfach artikulierte Arme mit gräßlichen Klauen am Ende. Der zirpende Lärm, das Klicken und Summen. Nein, doch nicht mir, sagt sie sich, das geschieht doch nicht wirklich mir. Wißt ihr nicht, wessen Tochter ich bin? Aber die Worte kommen ihr nicht über die Lippen. Wahrscheinlich wissen die es ja sowieso. Ein Fang wie sie – um so besser! Und dann umringt sie die ganze Horde, begrapscht sie, hält sie fest. Und dann – das Entsetzen ist urplötzlich verschwunden. Eine unheimliche, traumhafte Gelassenheit überkommt irgendwie mächtig ihre Seele. Die Hjjk schleppen sie fort. Ein langer Marsch, endlos und durch unvertrautes Land. Und dann – das hitzigfeuchte Dunkel des NESTS – dies befremdend völlig andere Leben, das wie eine gänzlich andere Welt war, obwohl doch genau hier, auf der Erde – die Kraft und Stärke der Königin, gewalttätig packend, umfassend, verschlingend, verwandelnd…
    Und seither immer – die Einsamkeit, das bittere Gefühl, es gebe nirgends auf der Welt jemand ihresgleichen. Und nun war da endlich ein anderer, dem widerfahren war, was sie erlebt hatte. Endlich! Einer, der wußte.
    »Wo ist er?« rief sie hastig. »Ich muß ihn sehen! Schnell!«
    »In der Basilika, Edle. Im Thronsaal bei Seiner Lordschaft Husathirn Mueri.«
    »Dann rasch! Gehen wir!«
    Und sie stürzte aus ihrer Kammer, ohne sich auch nur um ihre Schärpe zu kümmern. Ihre Nacktheit bedeutete ihr im Augenblick gar nichts. Sollen sie ruhig gaffen, dachte sie. Der Gerichtsdiener hastete verzweifelt unter Schnaufen und Keuchen hinter ihr drein, als sie die Treppen im Nakhaba-Haus hinabeilte. Verdutzte Sakraldiener in Priesterhauben stoben vor ihrem Ansturm zur Seite und starrten ihr erzürnt nach, brabbelten. Doch sie kümmerte sich nicht darum.
    An diesem Spätfrühlingstag stand die Sonne noch hoch im westlichen Firmament, obschon der Nachmittag bereits dem Abend zuschwand. Die Stadt lag in der Tropenwärme, wie von einem Mantel umhüllt. Der Gerichtsbote hatte draußen einen Wagen warten, ein Gespann von zwei sanften grauen Xlendis. Sie sprang neben ihm auf, und die Tiere setzten sich gemächlich und mit stetigem langsamen Trott in Bewegung und zogen sie durch die gewundenen Straßen in Richtung Basilika.
    »Kannst du sie nicht ein wenig rascher laufen lassen?« fragte sie.
    Der Büttel zuckte die Achseln und gab den Tieren die Peitsche. Es bewirkte nichts. Nur das eine Xlendi krängte den langen Hals und blickte mit großen ernsten Goldaugen nach hinten, als wäre es verblüfft, daß da jemand ein rascheres Tempo von ihm erwartete, als es sowieso vorlegte. Nialli Apuilana zwang sich, ihre Ungeduld zu zügeln. Der Heimkehrer, der Entronnene oder was sonst er war, der Fremde aus dem NEST, würde nirgendwohin gehen. Er wartete auf sie.
    »Wir sind da, edle Dame«, sagte der Büttel.
    Der Wagen hielt. Die Basilika lag vor ihnen, der hohe, von fünf Kuppeln gekrönte Palastbau am östlichen Rand des Hauptplatzes der Stadt. Die sinkende Sonne lag auf den grüngoldenen Mosaiken der Fassade und entflammte sie zu hellem Leuchten.
    Drinnen glühten in dunklen Metalleuchtern flackernde Glühkugeln. Beamte standen steif im Gang herum und schienen weiter keine Aufgabe zu haben, als sie mit Kopfnicken und Verbeugungen zu grüßen, während sie vorbeigingen.
    Der Fremde war die erste Person, die Nialli Apuilana erblickte. Er stand als scharfumrissene Silhouette in der Lichtpyramide, die von einem dreieckigen Fenster hoch droben, fast an der Spitze der Zentralkuppel, herabfiel. Er stand bedrückt da, die Schultern hängend, die Augen gesenkt.
    Am Handgelenk trug er ein Nestband. An einer Schnur um seinen Hals hing ein Nestschutz.
    Nialli Apuilanas Herz flog ihm entgegen. Wären sie allein gewesen, sie wäre auf ihn zugestürzt und hätte ihn unter Freudentränen umarmt.
    Doch sie hielt sich zurück. Sie blickte vielmehr zu dem reichgeschmückten Thron des Richters unter dem bronzenen Bögengeflecht, das die Kuppel bildete, auf dem Husathirn Mueri saß, und erlaubte sich, seinen scharfen, nachdenklich prüfenden Augen zu begegnen.
    Er wirkte irgendwie steif und verkrampft. Ein deutliches Duftsignal –

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