Der neue Frühling
ihm: »Hier herrscht die Königin-Erleuchtung.«
Und sie schweben, treiben ungehindert weiter… hierhin, dorthin, überallhin.
Lautlos gehen die Myriaden Nestbewohner ihren Aufgaben nach. Ein jeglicher kennt seinen Platz und seine Funktion. Das ist die Nest-Bindung: Harmonie, Einheitlichkeit, festgefügtes Muster. Draußen in der chaotischen Welt der Zufälle gibt es nichts dergleichen. Hier ist nichts chaotisch oder zufällig. In diesen Gangsystemen herrscht eine profunde Stille, und doch sind sie überall von zielstrebiger Aktivität erfüllt.
Hier stapfen Manipeln von Soldaten von ihrem neuesten Beutezug zurück, und Arbeiter eilen auf sie zu, sammeln die Waffen ein und reinigen sie und schleppen den Proviant, die heimgebrachte Beute, fort zu den Säuberungs- und Speicheranlagen. Und hier, wo das Licht dunkelpurpurn ist wie rauchig-schwelendes Feuer, lagern die Eierlegerkompanien in ihren Boxen. Unablässig streifen Cordons von Lebenszündern ruhig an ihnen vorbei und verweilen da oder dort, um den Befruchtungsakt zu vollziehen. Und hier kauern nahrungsbereite Ammen über den schlüpfbereiten Eiern und neigen sich, um den Neugeborenen Nahrung zu bieten.
Und hier, in engen düstren Abteilungen, unterrichten die Nest-Denker die Jugend, die in gespannter Aufmerksamkeit reglos vor ihnen steht. Hier sind auch die Leibdiener der Königin in ihrer warmen Katakombe und bereiten Ihr die Frühmahlzeit. Dort stehen in festgeschlossener Formation, Arm in Arm geschlungen, die Königlichen Leibwachen und riegeln den Weg zu den unteren Galerien mit der Kammer der Königin ab. Da warten Prozessionen der Jugend – nach männlich und weiblich getrennt – auf ihren Aufruf zur Audienz in der Kammer, wo sie das Geschenk der Königlichen Berührung erhalten und zur Reife erweckt werden sollen – oder aber um für eine andersartige Bestimmung ausgesondert zu werden, gezeichnet mit dem Mal eines Kriegers oder Arbeiters, oder um vielleicht einer der wenigen Auserwählten zu werden, ein Nest-Denker.
Die Kammer der Königin ist der einzige Nestbereich, den Nialli und Kundalimon in dieser Vision nicht betreten. Es ist ihnen nicht erlaubt – noch nicht –, denn während ihres früheren Aufenthaltes im Nest war Nialli nicht die Gunst der Erst-Audienz zuteil geworden, und Kundalimon kann sie nicht in die Gegenwart der Königin bringen, nicht jetzt und nicht einmal auf diesem Weg einer Vision, eines Traumes. Damit würden sie bis zum angemessenen Zeitpunkt warten müssen. Dann endlich würde sie die Königin in Ihrer gewaltigen und unergründlichen Masse in Ihrer geheimen Kammer im Herzen des Nests ruhen sehen.
Sonst aber liegt ihnen alles vor Augen. Und Nialli wandert staunend und in hingerissener Nest-Liebe darin umher.
Nest-Denker sagt: »Da sind sie, der Fleischling und des Fleischlings Braut. Kommt, setzt euch zu uns und tretet mit uns ein in die Nest-Wahrheit.«
Also sind sie ja gar nicht unsichtbar für die Nestbewohner. Natürlich nicht. Wieso sollten sie?
Sie streckt die Hand aus, und eine harte borstige Kralle ergreift sie und hält sie fest. Dicht vor ihr glühen schimmernde blauschwarze multifacettierte Augen. Wellenförmige Kraftströme pulsen durch ihre Seele: die starke Emanation des Nest-Denkers.
Nest-Denker tritt jetzt in ihren Geist ein und zeigt ihr die hohe Nest-Wahrheit, das eine, höchste, umfassende Konzept des Universums, die Macht, die alle Dinge bindet: der Friede der Königin. Und er weist ihr das Große Muster: die gewaltige Königin-Liebe, die sich im Ei-Plan verkörpert, um Nest-Überfluß in alle Dinge zu bringen. Er füllt Niallis Bewußtsein, genau wie einst vor Jahren ein anderer Nest-Denker in einem anderen Nest es getan hat.
Und wie damals dringt die schlichte Kraft in Niallis Seele ein, ergreift Besitz von ihr, und sie verneigt sich vor dem Wirklichen, gegen das es keine Widerrede gibt. Da kniet sie, schluchzt vor Entzücken, als die gewaltige Musik der Wahrheit durch die Hauptkanäle und Verästelungen in ihrem Geist donnert. Und sie überantwortet sich dem in völliger Hingabe.
Sie befindet sich wieder in ihrer wahren Heimat.
Und von nun an wird sie nie mehr fortgehen.
»Nialli?« Der Klang einer Stimme, eine unerwartete, eine betäubende Störung. Sie brach über sie herein wie eine einen endlosen Hang herabdonnernde Steinlawine. »Nialli? Bist du in Ordnung?«
»Nein… ja… ja…«
»Ich bin’s, Kundalimon. Mach die Augen auf, Nialli. Mach sie auf!«
»Sie… sind…
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