Der Neue im Sportinternat
Krimineller. Er hat sich für Mateo eingesetzt, verstehst du. Winkler ist sein Gönner.« Sandro lacht spottend. »Wenn du mich fragst, ist Winklers Engagement reines Selbstinteresse.«
»Du meinst, er schmückt sich damit, weil das gut für ihn ist und seinem Ansehen als Internatsleiter dient?«
»Blödsinn! Winkler wollte nen geilen Stecher im Haus haben. Mateo ist sein Bock!«
»Was?« Leon ist wie vom Donner gerührt. »Winkler trägt n Ehering. Auf seinem Schreibtisch habe ich 'n Foto von seiner Frau und seinen Kindern gesehen.«
»Das bedeutet gar nichts! Wie viele Männer sind verheiratet und trotzdem nicht hetero?!«
»Bist du dir wirklich sicher?«
»Pass mal auf, Leon. Eines hab ich gelernt. Gerüchte sind nie so ganz aus der Luft gegriffen; ein Funke Wahrheit ist fast immer dran!«
»Stör ich?«, fragt mit einem Mal Maurice und versucht sich zwischen Sandro und Leon zu drängeln. Er lächelt Sandro an und versucht mit dem Ellbogen Leon wegzudrücken. Dabei geht er so vor, als wäre das keine Absicht.
»Das ist n persönliches Gespräch!«, mault Sandro ihn an. »Hast du was mit den Augen? Tschüss!«
Unter seiner stark sonnengebräunten Gesichtshaut wird Maurice puterrot. Er kocht vor Wut! Dass Sandro ihn so auflaufen lässt und dass das jeder im Saal mitkriegt, ist für Maurice eine unerträgliche Demütigung. Erneut wirft er Leon hasserfüllte Blicke zu. In seinem Gesicht ist totale Feindschaft! Er dreht sich um und geht zu einem anderen Tisch. Leon fühlt sich wie auf dem Schlachtfeld vor Kriegsbeginn, wo ein eisiger Wind weht und von allen Seiten Einschüchterungsversuche kommen. Er ist froh, als Chocco endlich an den Tisch zurückkommt.
»Hallo Fräulein! Heitifei! Huch!«, ruft Falko Chocco gehässig zu und schwuchtelt rum. »Hast du noch was im Hintern stecken? Kommt davon, wenn man sich die Rosette versilbern lässt!«
Fast jeder lacht. Fynn, Timo und Maurice mit am lautesten.
»Mach dir nichts draus! Falko ist ein elender Wichser!« Leon will Chocco trösten. »Irgendwann bekommt der eine Abreibung, das schwör ich dir!«
Chocco fühlt sich hundelend und möchte am liebsten heulen. Mit den Tränen kämpft er ohnehin schon. Dass ausgerechnet auch noch Sandro neben Leon am Tisch sitzt, macht die Situation für Chocco nicht gerade besser. Chocco schämt sich. Er befürchtet, dass Sandro genauso über ihn denkt. Für Chocco steht fest, dass Sandro nur nicht wegen Leon gelacht hat. Chocco hat genug davon, dass sich beinahe jeder über ihn lustig macht. Er kann das alles nicht mehr ertragen! Ist er denn ein Niemand? Ist er nicht mehr als eine Witzfigur? Ja, vielleicht merkt man es ihm an, dass er schwul ist. Na und?! Aber er ist keine Tücke! Was hat er den anderen verdammt noch mal getan? Chocco will die Beschimpfungen nicht länger ertragen müssen. Schwule Homo-Tunte. Warmer. Schwuchtel. Dazu das Gelächter. Warum?
»Hey!«, lächelt Sandro Chocco an.
»Hey«, erwidert Chocco leise und weiß nicht, was er davon halten soll. Mitleid braucht er nicht, schließlich ist er nicht krank!
Leon schaut zu Chocco. Er ahnt, was in ihm vorgeht. Der Kummer und die Verzweiflung sind Chocco so sehr anzusehen. Was für ein großes Unrecht! Leon erinnert sich, wie so oft, an seine Großmutter Colette. In ihrem Tagebuch, sie nennt es liebevoll ihr Buch der Gedanken, hat er erst kürzlich wieder blättern dürfen und fand dort den Eintrag: Der Mensch in seiner Verwundbarkeit, seinem Hang zu Leiden, seiner Tragik und seiner Vergänglichkeit - das rührt mich! Ich will der Seele begegnen, mit ihr sprechen. All die Schicksale ohne Ruhm; ich möchte diese Schatten treffen und mich bekreuzigen! Männer und Frauen ohne Silhouetten; ihre Leben zerbrechen. Jemand wird geboren und verschwindet wieder. Scheinbar spurlos! Leon beginnt zu verstehen, was seine Großmutter damit meint!
»Wir wollen nachher 'ne Runde Billard spielen. Machst du mit?«, lädt Sandro Chocco ein.
Leon freut sich über Sandros Solidarität mit Chocco. Kopfnickend lächelt er Chocco aufmunternd zu.
»Habe ich noch nie gespielt. Ich weiß nicht, ob ich es kann!« Chocco zieht einige Müsliriegel aus der Hosentasche, bietet sie Leon und Sandro an. Selber entscheidet er sich für einen mit Früchten. »Alfons hat noch jede Menge davon!«
Leon und Sandro greifen zu. Die Stimmung ist gedrückt. Passend dazu donnert es draußen, und aus dem wolkenverhangenen Himmel beginnt es zu tropfen. Aus den einzelnen Tropfen wird rasch ein starker
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