Der Neue im Sportinternat
Regenfall. Der Donner wird lauter. Am dunklen Himmel zucken Blitze.
»Du hast es vorausgesagt!« Mit dem Ellbogen schubst Leon sanft Chocco an und will ihn aufmuntern. »In dir steckt 'n kleiner Wetterfrosch!«
»Kommt, lasst uns die Flatter machen!«, schlägt Sandro vor und nimmt sein Tablett in die Hand. »Kein Bock mehr, hier zu sitzen!«
Leon und Chocco nehmen ebenfalls ihr Tablett. Gemeinsam bringen sie es zum Abstelltisch für gebrauchtes Geschirr. Oliver, ein anderer Schwimmer, kommt zu Sandro, weil er eine Frage hat. Dabei geht es um Wettkämpfe. Leon und Chocco bleiben an der Seite stehen, warten. Leon lächelt Chocco an. Seine Großmutter Colette würde Chocco lieben, das weiß er genau. Vielleicht nimmt er ihn irgendwann mal mit nach Paris. Großmutter Colettes Herz ist so groß wie das Universum! Für einen strahlenden Stern wie Chocco, der sich in der Seele so einsam und traurig fühlt, ist das genau der richtige Ort, um zu erkennen, dass er so viel mehr ist als er ahnt.
Leon beobachtet, was im Speisesaal vor sich geht. Maurice starrt ihn an, dann Sandro. Leon ignoriert ihn. Mit ihrer Tasse Kaffee steht Lori von Rothenbach vom Tisch auf. Sie lächelt, beugt sich runter zu Adrians Ohr, flüstert ihm was zu. Adrian wirkt fröhlich gestimmt, irgendwie innerlich gerührt. Loris Lächeln bleibt auf ihren Lippen sanft liegen. Ein Lichtstrahl zwischen Tag und Dämmerung!, denkt Leon romantisch.
Lori geht zum Fenster rüber, das unweit von ihrem Tisch ist. Sie will sich das Unwetter ansehen. Als sie am Fenster steht, erstarrt ihr Gesicht. Sie lässt die Tasse zu Boden fallen. Es gibt einen lauten Knall. Die Tasse zerbricht in Scherben, der heiße Kaffee fließt über den Boden. »Oh mein Gott!«, ruft Lori erschüttert. Ihre Unterlippe bibbert, als würde sie frieren. In Loris Augen sammeln sich Tränen, die in Begleitung eines Schluchzens über ihr Gesicht laufen. »Adrian! Schnell! Mein Gott!«
Im Speisesaal verstummt jede Stimme. Alle Augen sind auf Lori gerichtet. Beklemmung breitet sich aus wie eine Blase des Kummers und Grams. Eine böse Vorahnung ist fast schon spürbar.
Adrian springt vom Stuhl hoch, hastet zu Lori. Er sieht aus dem Fenster. »Oh nein!« Die Worte verlassen seinen Mund wie die Bitte: Lass es nicht wahr sein! Adrians Gesichtszüge gleichen denen von Lori. Unfassbarkeit lässt ihn regelrecht versteinern. Adrian dreht sich vom Fenster weg und rennt aus dem Speisesaal.
Auf ihren hohen Absätzen folgt Lori Adrian. Um nicht umzuknicken und letztendlich auch schneller zu sein, zieht Lori die Pumps aus, nimmt sie in die Hand und flitzt nach draußen.
Chocco sieht Leon an. Leon weiß den Blick zu deuten und nickt Chocco zu. Ja, er will mit ihm zum Fenster gehen und nachsehen, was Schreckliches draußen zu sehen ist. Mit einem unbeschreiblichen Magendrücken nähern Leon und Chocco sich dem Fenster. Sandro schließt sich ihnen an, weil auch er wissen will, was geschehen ist. Immer mehr Jungs schließen sich ihnen an. An der Fensterbank im Speisesaal bildet sich eine Mauer aus Internatsschülern, die allesamt im kollektiven Ohnmachtgefühl versinken.
Draußen im Regen ist ein sehr dicker Junge mit einem Seil an einen Baum gefesselt wie an einen Marterpfahl. Über den Kopf wurde ihm eine Papptüte gestülpt, die sein Gesicht verbirgt. Auf der Papptüte ist in großen schwarzen Buchstaben zu lesen: ANTIMENSCH! Der nackte beleibte Körper offenbart eine Intimität, die so verletzbar ist und lässt darüber hinaus eine Seele erahnen, die sich im Unglücklichsein zurückgezogen hat. Der Kopf fällt seitlich auf die Schulter, und der Körper sackt langsam in sich zusammen. Die nackten Füße rutschen im Matsch weg.
»Nils!«, sagt Chocco leise.
Alles ist finster! Es fällt schwer zu atmen! Alles, was menschlich ist, erscheint auf einmal barbarisch. Die Blase des Kummers und Grams scheint endlos zu sein; entsprungen der Einsamkeit, verbrüdert mit Verzweiflung und völliger Desillusionierung. Leon blickt zum Tisch, an dem Falko mit seinen Jungs und mit Fynn und Timo sitzt. Sie sind die Einzigen, die nicht am Fenster stehen. Das ist es also, was Falko verlangt hat! Schlimmer noch: Zumindest einer der Zwillinge hat nicht davor zurückgeschreckt und ist gewissenlos zur Tat geschritten! Im übertragenen Sinne kommt Leon das wie eine Kreuzigung vor. Wie konnte man das Nils nur antun?! Alles nur deswegen, um zu einer Clique dazuzugehören?
»Wir haben nicht mal bemerkt, dass Nils nicht an seinem
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