Der neunte Buddha - Thriller
»Pah! Das wird nicht lange dauern. Dem Pee-ling ist er nicht gewachsen. Ich kenne Tsarong, seit er als kleiner Junge hierherkam. Er war immer ein wilder Bengel. Er riss den Fliegen erst die Flügel, dann die Beine und schließlich die Köpfe ab. Ein richtiger kleiner Bastard. Als er dafür Prügel bekam, sagte er, er wollte den Fliegen einen Gefallen tun, vielleicht würden sie dann als etwas Besseres wiedergeboren – als Libellen, Schmetterlinge oder Fledermäuse. Er ist böse und unbeliebt. Sie werden ihn nicht unterstützen. Es wird nicht lange dauern, und der Dorje Lama ist wieder in seinem Amt.«
Chindamani seufzte tief auf. Sie hatte der alten Frau nicht zu viel zumuten wollen. Aber sie musste die Wahrheit wissen.
»Der Dorje Lama ist tot, Ama-la«, flüsterte sie.
»Tot? Wie das?«
Chindamani setzte ihr auseinander, was Tsarong Rinpoche ihr gesagt hatte. Das war nicht leicht, und als sie damit fertig war, musste sie weinen. Samdup sah das, und sein Schrecken und seine Empörung wuchsen.
»Ermordet?«, wiederholte Sönam. »Oh weh! Das kostet Tsarong Rinpoche hundert Leben! Er wird als flügellose Fliege zurückkehren, ihr werdet schon sehen. Wenn ich ihn dann erwische, trete ich ihn tot!« Aber ihr Zorn und ihr Spott waren nur Fassade. Tief im Inneren fühlte die alte Frau ihre Welt zusammenbrechen. Sie hatte Zeit gebraucht, sich anden Pee-ling Trulku zu gewöhnen, aber am Ende hatte sie ihn gemocht.
»Wir sind alle in Gefahr, Ama-la. Ein Mann aus dem Norden ist hier, ein Burjate. Er will unseren Herrn Samdup und den Enkel des Pee-ling Trulku mit sich nehmen.«
»Und du, mein Goldstück, was haben sie mit dir vor?« Die alte Amme strich mit ihrer vertrockneten Hand sanft über Chindamanis Haar.
»Ich denke, Tsarong Rinpoche wird auch mich töten lassen«, antwortete Chindamani, so ruhig sie konnte. »Er weiß, wenn ich wollte, könnte ich die Mönche um mich sammeln und seinem Treiben ein Ende setzen. Aber das wird er nicht zulassen. Und der Burjate auch nicht.« Sie verstummte, nahm Sönams Hand und drückte sie fest.
»Die dürfen Sie nicht anrühren!«, rief Samdup und stürzte zu Chindamani hin. »Das lasse ich nicht zu. Sie brauchen mich. Ich mache nicht, was sie wollen, wenn sie Ihnen etwas antun.«
Chindamani nahm die Hand des Jungen.
»Ich danke dir, Samdup. Ich weiß, du tust alles für mich, was du kannst. Aber auch du könntest sie nicht davon abhalten. Tsarong Rinpoche fürchtet mich. Ich habe einen Einfluss, über den er nicht verfügt. Ich bin eine Inkarnation, er nicht.«
»Ich bin auch eine Inkarnation! Ich kann …«
»Ja, Samdup, mein Lieber, aber du bist noch ein Kind. Der Dorje Lama war eine Inkarnation, und sie haben ihn getötet. Andere hätten das nie getan. Erinnere dich, wie sie dich zurückgebracht haben, als du mit Tobchen Geshe fliehen wolltest.«
Samdup runzelte die Bauen und setzte sich wieder. Wie hilflos hatte er sich damals gefühlt. Wie leicht hatte Thondrup Chophel ihn gegen seinen Willen nach Dorje-la zurückbringen können.
Chindamani wandte sich wieder Sönam zu.
»Höre, Ama-la«, sagte sie. »Hör mir genau zu, damit du nichts durcheinanderbringst. Ich muss fliehen. Die Kinder nehme ich mit.«
»Du allein? Du und die Jungen? Ihr kommt nicht einmal über den Pass.«
»Nicht allein«, sagte Chindamani. »Den Sohn des Dorje Lama haben sie nicht getötet. Zumindest …« Sie hielt inne. »Zumindest war er noch am Leben, als sie uns weggeschickt haben. Wenn ich zu ihm gelangen könnte … Ich habe bereits Kleider und Proviant für die Reise beiseitegebracht.«
»Und wie willst du aus Dorje-la herauskommen?«, krächzte die Alte. Sie wusste alles über Christopher. Seit zwei Tagen sprach Chindamani kaum noch von jemand anderem.
»Heute Nacht wird niemand schlafen. Du weißt, dass es unmöglich ist, sich auch nur abzuseilen. Ihr habt keine Flügel, ihr seid keine Vögel. Ist dieser Ka-ris To-feh ein Zauberer? Kann er fliegen wie Padma-Sambhava? Oder vielleicht ist er ein Lung-pa , der an einem Tag Hunderte Kilometer laufen kann und weit fort ist, bevor das überhaupt jemand merkt?«
»Nein«, sagte Chindamani. »Er ist nichts von alledem.«
»Ich auch nicht«, murmelte die Amme. »Und auch du nicht. Nur weil die Göttin Tara …«
»Lass Tara aus dem Spiel, Sönam«, gab Chindamani zurück. »Ich habe nie von Zauberkräften gesprochen und tue es auch jetzt nicht.«
»Die wirst du aber brauchen, wenn du ungesehen von hier entkommen willst. Und noch
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