Der neunte Buddha - Thriller
dem Dünnen, der die Befehle gab, hatte er Angst. Sie gerieten in einen Sturm und erlitten beinahe Schiffbruch in Wellen, hoch wie ein Haus. Er hatte keine Ahnung, wo sie an Land gegangen waren.
Den Rest des Weges musste er allein in Begleitung des dünnen Mannes zurücklegen. Auf einem Feld nicht weit von dem Strand, wo sie gelandet waren, wartete ein Flugzeug auf sie. Zuerst waren sie in nördlicher Richtung geflogen. Williamwusste, wie man anhand von Sonne und Polarstern die Himmelsrichtung bestimmt. Dann ging es nach Osten. Wenn seine geographischen Kenntnisse ihn nicht trogen, flogen sie über Russland. Sie mussten oft landen, um das Flugzeug auftanken und zuweilen auch reparieren zu lassen. Später wandten sie sich nach Süden.
Als sie in Indien ankamen, war er total erschöpft. Er hasste das Waisenhaus, obwohl er dort in einem Bett schlafen konnte. An Reverend Carpenter erinnerte er sich nur mit Schaudern. Aber die Reise, die danach kam, war noch schrecklicher gewesen. Mishig, der die kleine Karawane befehligte, war ein brutaler Kerl und hatte William das Leben zur Hölle gemacht.
Im Kloster kam ihm alles unwirklich vor. Überall Bilder und Statuen, die ihn erschreckten, überall hagere Männer mit rasierten Köpfen, die ihn anstarrten wie ein Tier im Zirkus. Der alte Mann, der Englisch sprach und behauptete, sein Großvater zu sein, hatte ihn zu beruhigen versucht, aber das half ihm nicht. Er fühlte sich allein, verwirrt und verlassen. Nicht einmal der andere Junge, der sich in einer Sprache an ihn wandte, die er nicht verstand, oder die Dame, die mit Hilfe seines Großvaters zu ihm gesprochen hatte, konnten ihm seine Angst nehmen.
Die letzte Nacht aber war die schlimmste von allen gewesen. Man hatte ihn und Samdup, den anderen Jungen, aus dem Schlaf gezerrt und über diese schreckliche Brücke gehen lassen. Er sah, wie Dutzende Männer getötet wurden. Dann wurde sein Vater hereingeführt und seine letzte Hoffnung zerstört. Wenn auch er sich in der Gewalt dieser Leute befand, wer konnte noch kommen und ihn retten?
Chindamani hatte Tsarong Rinpoche überzeugt, die Kinder in ihren Raum mitnehmen zu dürfen. Vor ihre Tür wurdenzwei Wachen gestellt, die sie beide nicht kannte. Tsarong Rinpoche war mit der Bemerkung gegangen, er werde am nächsten Morgen in aller Frühe wiederkommen.
Ihre alte Kinderfrau Sönam war bei ihr. Sie hatte sich unter dem Bett versteckt. Die alte Ama-la war Chindamanis ständige Begleiterin, seit man sie als kleines Mädchen von dem Dorf in der Provinz Dsang, wo sie geboren war, nach Dorje-la gebracht hatte. Das war sechzehn Jahre her.
Schon damals war Sönam eine alte Frau gewesen, inzwischen war sie uralt. Sie hatte zwei Inkarnationen der Göttin Tara gedient, sie als Kleinkinder gebadet und gefüttert, als Kinder geliebt, ihnen in der Pubertät geholfen und sich ihren Kummer als Frauen angehört. Vor zwanzig Jahren hatte sie Chindamanis Vorgängerin einbalsamiert und ihr die besten Kleider angelegt, bevor sie in einem kleinen Chörten zur letzten Ruhe gebettet wurde, der für sie im Tara-Tempel reserviert war. Vier Jahre später hatte man ihr Chindamani gebracht, ein winziges Mädchen, das traurig eine Puppe aus Wollfäden an sich drückte und sie anflehte, sie zu ihrer Mutter zurückzubringen. Die Puppe gab es immer noch, auch wenn sie inzwischen abgewetzt und hässlich aussah. Aus dem kleinen Mädchen war eine schöne Frau geworden.
»Was sollen wir tun, Ama-la?«, fragte Chindamani ihre Ratgeberin. Sie selbst schien allen Mut verloren zu haben, seit sie in Thondrup Chophels Raum die von der Decke hängenden Toten gesehen hatte. Sönam hatte sie davon nur das Nötigste gesagt – genug, um die Neugier der Alten zu befriedigen, aber nicht genug, um sie zu ängstigen.
»Tun? Was können wir überhaupt noch tun?«, fragte die Alte zurück. Ihre kleinen schwarzen Augen flitzten wie flinke Fische in dem pergamentfarbenen Gesicht hin und her. Sie trug ihr Haar immer noch in die traditionellen einhundertacht Zöpfe geflochten, die jedoch über die Jahre dünner unddünner, fettiger und fettiger geworden waren. Um ihre Zähne hatte sich lange niemand mehr gekümmert. Aber sie murrte nicht. Sie hatte ihr Leben lang von Tee und Tsampa gelebt und niemals Fleisch oder Fisch begehrt oder gar gegessen. Jetzt hielt sie eine Gebetsmühle in der Hand, die sie mit ihren knorrigen Fingern nervös drehte.
»Du sagst, Tsarong Rinpoche hat den Pee-ling Trulku abgesetzt?«, fuhr sie fort.
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