Der neunte Buddha - Thriller
Priester.«
Er seufzte, als habe er sich sein ganzes Leben lang vor dunklen Altären verbeugen und zu Füßen alter Götter Kerzen anzünden müssen.
»Sie brauchen neue Führer«, sprach er weiter, »Männer, die sie von ihrem Aberglauben befreien. Sie wollen ihnen Schulen, Gerichte und Kricketfelder bringen. Aber die haben bereits Bücher, Gesetze und Spiele. Was sie brauchen, ist Freiheit. Freiheit von Unterdrückung, von Ungerechtigkeit, von Mangel.«
»Und das werden Sie ihnen geben?«
»Wir werden es möglich machen. Die Freiheit werden sie sich selbst nehmen.«
»Und was ist mit der freien Entscheidung?«
Samjatins Augen blitzten.
»Auch die wird mit all dem anderen kommen. Aber zunächst müssen sie ihres Feudalismus entwöhnt werden. Das wird ein schmerzlicher Vorgang sein. Viele werden sterben, bevor er beendet ist. Doch jeder Tod wird die Massen ihrer Befreiung einen Schritt näherbringen. Das ist unumgänglich. Die Macht der Geschichte ist auf unserer Seite.«
Wie ein echter Gläubiger mit Rosenkranz oder Gebetsmühle murmelte Samjatin die Formeln seiner Liturgie, berief er sich bei all seinen Schandtaten auf die Geschichte. Christopher fiel ein, was Winterpole zu ihm gesagt hatte: Die Bolschewiken sprechen von den Gesetzen der Geschichte wie die Jesuiten vom unbedingten Gehorsam. Die Geschichte kennt keine Gefühle: kein Mitleid, keine Liebe, keinen Jubel und keine Verbitterung. Sie folgt einem vorbestimmten Kurs. Und Gott sei denen gnädig, die ihr in die Quere kommen.
Christopher fühlte sich in einer moralischen und emotionalen Falle gefangen. So weit war er nun gereist, um seinen Sohn zu retten. Aber dafür sollte er andere unschuldige Männer und Frauen verraten. Samjatin würde sich nicht mit ein paar Krumen unbedeutender Information abspeisen lassen. Er würde Wege finden, um zu prüfen, was Christopher ihm mitteilte. Er würde Fragen stellen, auf die er klare Antworten erwartete. Und wenn Christopher Verrat geübt hatte, wo war die Garantie, dass der Russe zu seinem Wort stand? Er sprang mit Menschen um wie mit Schachfiguren, und Christopher konnte sich nicht vorstellen, dass Samjatin sich besonders für seine Sicherheit oder die seines Sohnes einsetzen würde.
»Ich brauche Zeit, um nachzudenken«, sagte er. Das Messer war jetzt ganz herausgezogen. Er hielt es locker in der Hand, bereit, sich auf den Russen zu stürzen.
Samjatin kräuselte die Lippen. Die Kerzen waren heruntergebrannt. Draußen herrschte stockdunkle Nacht.
»Diese Zeit kann ich Ihnen nicht geben«, sagte er. »Ich habe selber keine. Sie müssen sich noch heute Nacht entscheiden. Morgen breche ich nach der Mongolei auf. Der tibetische Junge ist gerade dabei, zum Gott zu werden. Ihr Sohn kommt mit mir. Ob er aber die Reise überlebt oder nicht, hängt von Ihnen ab. Ich hoffe, Sie verstehen das, Major Wylam.«
»Ich verstehe.« Christopher erhob sich.
»Sie werden jetzt in Ihren Raum geführt. Wenn Sie etwas brauchen, dann wird der Verwalter es Ihnen bringen lassen.«
»Sagen Sie mir«, kam es jetzt von Christopher, »warum haben Sie so viele Menschen umgebracht? Sie hatten einen Deal. Sie haben bekommen, was Sie wollten. War dieses Massaker nötig?«
Samjatin stand ebenfalls auf und trat einen Schritt auf Christopher zu.
»Ihr Vater ist von dem Deal zurückgetreten«, erklärte er. »Er wollte, dass ich von hier verschwinde. Er hat seinen Mönchen befohlen, mich hinauszuwerfen. Etwas Derartiges habe ich befürchtet, als ich hörte, das Tsarong Rinpoche Sie hergebracht hat. Ihr Vater hat sich von Gefühlen leiten lassen. Ein halbes Leben lang hatte er seine Leidenschaften unter Kontrolle, und jetzt handelte er einen Moment lang unbedacht. Er war genau so ein Kind wie wir alle. Ich hatte keine Zeit, um mit ihm zu streiten. Machen Sie nicht denselben Fehler wie er.«
Das wollte Christopher auf keinen Fall tun. Er packte das Messer, erhob es und stürzte sich auf Samjatin. Die Klinge fuhr durch den Ärmel des Russen und schlitzte ihn der Länge nach auf. Christopher fiel flach auf die Kissen, drehte sich, holte weit aus und zielte mit dem Messer auf Samjatin.
Der Russe war ungünstig auf die Seite gefallen. Kissen behinderten ihn, als er von Christopher wegzukommen versuchte. Der holte noch einmal aus.
Samjatin packte ihn mit der Linken am Arm und versuchte, schwer atmend, die Messerspitze von seiner Brust wegzudrücken. Sie war nur noch einen Zollbreit entfernt. Christopher setzte all seine Kraft ein, um seinem
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