Der neunte Buddha - Thriller
auf Sönam. Sag ihr immer wieder, dass sie sich keine Sorgen machen soll. Bitte sie, dass sie euch hilft, eure Sachen zusammenzupacken. Es liegt alles in der großen Truhe. Später werden wir nicht mehr viel Zeit haben. Ich kann dir nicht dabei helfen, ich muss Ka-ris To-feh finden.«
Aber der Junge blieb sitzen, wo er war, und starrte sie nur an.
»Was ist, Samdup?«, fragte sie.
»Ich habe Angst«, sagte der Junge. »Ich will nicht heute Nacht in den Gön-kang gehen. Und ich will auch nicht durch einen Gang schleichen.«
Chindamani setzte sich neben ihn.
»Ich habe auch Angst, Samdup«, flüsterte sie. »Aber wir müssen beide mutig sein. Es ist sehr wichtig, dass du heute Nacht Mut zeigst. Du warst doch auch mutig, als du mit Tobchen Geshe nach Gharoling aufgebrochen bist.«
»Ich war nicht mutig, Chindamani. Als Tobchen Geshe weg war, habe ich vor Angst geheult.«
»Ich weiß«, sagte sie und legte eine Hand auf den Kopf des Jungen. »Aber dazu hattest du auch allen Grund. Du warst allein und in großer Gefahr. Wäre Thondrup Chophel nicht gekommen, hättest du sterben können.«
»Aber vor Thondrup Chophel habe ich mich noch mehr gefürchtet!«
»Nur am Anfang. Danach warst du einfach unglücklich. Doch du warst nicht mehr in Gefahr. Heute Nacht wirst du in Gefahr sein. Niemand wird versuchen, dich zu töten, dazu bist du zu wertvoll für sie. Aber es kann eine Zeit kommen, da es in ihrem Interesse liegt, dich loszuwerden.Deswegen müssen wir beide heute Nacht von hier fort. Verstehst du?«
»Ja, aber …«
»Da ist nichts Schreckliches im Gön-kang .« Sie beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm rasch ins Ohr: »Lass dich von Sönams Geschichte nicht erschrecken. Es ist nur ein altes Märchen. Da unten ist nichts.«
Dabei machte sie sich selber Sorgen. Es musste nicht die Art Schrecken sein, die sich die alte Amme vorstellte. Aber eine böse Überraschung konnte man durchaus für sie bereithalten.
Sie drückte Samdups Hand und lächelte. Der Junge gab ihr ein schiefes Lächeln zurück. Dann ging sie zu William. Wenn sie ihm doch nur ein paar Worte in seiner Sprache hätte sagen können, um ihn zu beruhigen. So brachte sie nur den Namen seines Vaters, Ka-ris To-feh, heraus und wusste nicht einmal, ob er verstand, was sie meinte. Sie lächelte und küsste ihn leicht auf die Stirn. Auch er versuchte ein kleines Lächeln, aber er hatte immer noch Angst.
Sie ging durch den Raum zu einer großen Lacktruhe. Darin hatte sie alles gesammelt, was sie für ihre Reise brauchten: Kleidung für alle vier, ein Zelt, Proviant und einen Beutel Brennmaterial, das sie aus der Küche entwendet hatte, dazu etwas Geld. Sie hatte nie im Leben Geld benutzt, aber sie kannte dessen Bedeutung und wusste, dass es sicherer war, damit ausgestattet zu sein als mit Gold oder Schmuck, den einzigen Formen transportablen Reichtums, die sie besaß. Das Geld hatte ihr Sönam beschafft, die an fast alles herankam.
Chindamani schlüpfte in einen schweren Männermantel, der ihr anders als die Chuba ein wenig Bewegungsfreiheit ließ. Sie sprach noch ein paar beruhigende Worte zu ihrer Amme, lächelte den Jungen zu und ging zum Fenster.
Vor langer Zeit, als sie noch klein war, hatte sie festgestellt, dass direkt unter den Fenstern des Obergeschosses ein schmaler Sims entlanglief. Damals hatte sie versucht, auf diesem Weg in einen nahegelegenen Raum zu kommen, wo einer ihrer Lehrer wohnte, war aber von Sönam entdeckt und hart bestraft worden. Jetzt betete sie dafür, genügend Gleichgewichtssinn zu haben, um zu Christophers Raum zu gelangen, der auf derselben Seite des Gompa lag wie ihr eigener.
Kälte biss ihr in Gesicht und Hände, als sie aus dem Fenster stieg. Es war, als ob Eissplitter sich in die Haut bohrten. Langsam ließ sie sich auf den Sims herab und fand ihn näher als erwartet. Sie hatte ganz vergessen, dass sie seit ihrem letzten Versuch beträchtlich gewachsen war. Aber der Sims war auch schmaler als in ihrer Erinnerung, schmaler als die Brücke zum Labrang und dicht an der Wand.
Der Wind war schlimmer als die Kälte. Auf seinem Weg vom Pass ins Nichts fegte er die Klostergebäude entlang. Dunkelheit, Kälte und Wind verschworen sich gegen sie, versuchten sie steif und blind zu machen und in die Tiefe zu reißen. Licht und Wärme des Hauses waren in Sekundenschnelle nur noch eine ferne Erinnerung, die sie aus ihrem Kopf vertreiben musste. Alle Energie, all ihre Gedanken waren jetzt auf eine einzige Sache zu
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