Der neunte Buddha - Thriller
Kletterei über den Sims, und ihre Hände brannten, da langsam wieder Gefühl in sie zurückkehrte. Am liebsten hätte sie sich auf das Bett geworfenund geschlafen. Sich vor all dem Schrecklichen in Träume zu flüchten – danach sehnte sie sich jetzt am meisten.
Die Tür war nur angelehnt. Mit angehaltenem Atem öffnete sie sie einen Spalt breit. Kaum einen Meter entfernt lag ein Mann am Boden und bewegte sich nicht. Die lange Hellebarde vom Gön-kang war ihm aus der Hand gefallen und lag neben ihm. Chindamani beugte sich zu ihm hinunter. Er war tot. Soweit sie sehen konnte, hatte man ihm das Genick gebrochen. Hielten die Kämpfe immer noch an? Oder hatte Ka-ris To-feh das getan, als er fliehen wollte?
Wenn es Ka-ris To-feh gewesen war, dann würde er versuchen, einen Weg aus dem Kloster zu finden. Der kürzeste führte über das Dach. Er kannte ihn von dem Abend, da sie ihn zum Labrang gebracht hatte. Aber wenn er hoffte, auf diesem Wege zu entkommen, dann machte er einen törichten Fehler. Das Dach führte nirgendwohin. Und die Brücke nur zum Labrang .
Sie lief rasch zu der Luke, durch die sie und Christopher auf das Dach gelangt waren. Im Kloster herrschte wieder Stille, aber heute wirkte sie bedrohlich, nicht meditativ, wie Chindamani es gewohnt war. Früher hatte sie sich aus Rücksicht auf den Schlaf und die Gebete der Mönche in ihren Zellen lautlos bewegt, wenn sie des Nachts umherging. Jetzt tat sie es aus Angst um ihr Leben.
Als sie die Luke erreichte, war diese verschlossen. Aber auch die Leiter war fort, und sie vermutete, Ka-ris To-feh könnte sie hinaufgezogen haben, um eventuelle Verfolger abzuschütteln. Ohne die Leiter hatte sie keine Möglichkeit, an die Luke heranzukommen. Die einzige Chance war eine zweite Luke in der Nähe, die nur der Abt benutzte, wenn er sich zum Labrang begeben oder sich einfach auf dem Dach ergehen und in die Wolken schauen wollte.
Die Leiter an der zweiten Luke stand an Ort und Stelle.Wenige Augenblicke später war Chindamani auf dem Dach. Sie betete, niemand möge die offene Luke entdecken, aber sie hatte keine Zeit, ihre Spuren zu verwischen.
Wieder packte sie der Frost mit heimtückischen Fingern, als wollte er sie für die Zeit strafen, die er sie hatte aus den Klauen lassen müssen. Der Wind fuhr ungehindert über das Dach. Stücke von trockenem Schnee schossen ihr aus der Dunkelheit ins Gesicht. Das Heulen des Windes und das starke Pochen in ihrer Brust übertönten jedes andere Geräusch. Wie eine Schwimmerin, die sich in der bedrohlichen Stille der grünen Tiefen bewegt, öffnete sie ihren Mund und rief seinen Namen, konnte sich aber nicht einmal selbst hören. Ihre Stimme wurde von dem Getöse verschluckt, ihr Ruf blieb dünn und vergeblich. Wieder und wieder suchte sie sich Gehör zu verschaffen und wiederholte seinen Namen wie eine Mantra. Aber die verhallte ungehört und unbeachtet. Er musste hier irgendwo sein. Es gab keinen anderen Weg, den er hätte nehmen können.
So lief sie rufend durch die Dunkelheit. Es kam ihr wie ein geheimnisvolles Wunder vor, seinen Namen auf diese Weise zu beschwören. Den Namen eines Mannes, den sie kaum auszusprechen vermochte. Es störte sie, dass seinen Namen zu nennen ihr solchen Genuss bereitete, während es sie zugleich tief beunruhigte, dass er hier den Tod gefunden haben könnte.
Dann entdeckte sie ihn. Er saß auf dem Podest eines alten Bronzedrachens, der hier die Chörten bewachte. Er starrte in die Dunkelheit hinaus, ein schmaler Schatten, der sich kaum von seiner Umgebung abhob.
»Ka-ris To-feh«, sagte sie und setzte sich neben ihn. »Wir müssen von hier fort. Wir müssen Dorje-la verlassen.«
»Ich habe es ja versucht«, sagte er. »Aber es gibt keinen Weg hier heraus. Und wenn es einen gäbe, wohin sollten wiruns wenden? Es ist überall das Gleiche – eine weiße endlose Leere. Was macht es schon, ob man hier oben lebendig oder tot ist? Niemanden kümmert das.«
»Doch, mich kümmert es«, sagte sie.
»Dich?«, rief er aus. Ein trockener Laut wie ein Lachen entrang sich seinen Lippen und wurde vom Wind davongetragen. »Dich kümmern doch nur deine Götter, deine Buddhas und deine Inkarnationen. Du weißt nicht, wie die wirkliche Welt ist. Du weißt nicht, welchen Schaden sie anrichten, eure Götter. Welche Wunden sie schlagen können.«
»Ich mag dich«, sagte sie und rückte näher zu ihm heran, damit der Wind nicht ihre Worte fortriss. »Ich liebe dich.«
Als sie diese Worte aussprach, wusste
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