Der neunte Buddha - Thriller
beruhigten sich Herzschlag und Atem, und in ihr rechtes Bein kehrte das Leben zurück. Sie schob ihren linken Fuß gerade so weit vor, dass auf dem Sims Raum für den rechten Fuß war, verlagerte das Körpergewicht nach links und überschritt die Lücke. Das war’s. Sie wusste, dass sie so etwas nicht ein zweites Mal auf sich nehmen konnte. Dieser Weg zurück war ihr verschlossen. Sie würde entweder erfrieren oder in die Tiefe stürzen.
Nach ihrer Berechnung musste Ka-ris To-fehs Raum der fünfte in der Reihe sein, aber in der Dunkelheit war das nicht klar zu erkennen.
Sie fürchtete, sie könnte sich irren und daran vorbeigehen. Und sie betete, dass er seit dem Morgen die Fensterläden nicht wieder geschlossen hatte. Sie erinnerte sich nicht, in welchem Zustand sie gewesen waren, als sie ihn in der Nacht aufsuchte, um ihn zu wecken.
Dann musste sie daran denken, dass ihr die Zeit davonlief. Angst trieb sie zur Eile, aber sie zwang sich, weiter nur Zentimeter für Zentimeter vorzurücken.
Ihre Finger wurden zum Problem. Wenn sie noch lange bei dieser Kälte draußen blieb, konnte sie sich eine ernste Erfrierung holen. Das Gefühl war längst aus ihnen gewichen, und sie konnte sie nur noch mit größter Willenskraft bewegen.
Als sie das fünfte Fenster endlich erreichte, glaubte sie,Stunden seien vergangen. Zu ihrer Freude war es von einem matten Schein erleuchtet. Als sie direkt darunterstand, zog sie sich hoch und lugte durchs Fenster.
Christopher war nicht in dem Raum.
36
Tsarong Rinpoche wurde immer unruhiger. Mit Hilfe des Burjaten Sam-ja-ting hatte er endlich Dorje-la unter seine Kontrolle gebracht. Sam-ja-ting glaubte, er sei nun der Herr, aber er würde ihm schon bald zeigen, wer in Dorje-la wirklich das Sagen hatte. Wesentlich mehr beunruhigte ihn Chindamani. Sie verkörperte die Göttin Tara, die, wie auch Chindamani selbst, unter den Mönchen sehr beliebt war. Wenn man ihr Zeit ließ und das Biest von den Trapas in entsprechend emotionaler Sprache Treue einforderte, dann konnte sie alle seine Bemühungen zunichtemachen. Sie musste beseitigt werden. Aber dieses Unternehmen musste er geschickt einfädeln, wenn es nicht nach hinten losgehen sollte.
Der Engländer Wy-lam hatte seinen Zweck erfüllt. Durch sein Erscheinen war es möglich geworden, den Pee-ling -Abt mit den Machenschaften der Briten in Zusammenhang zu bringen. Sam-ja-ting wusste eine Menge über Wy-lam und hatte damit die Mönche überzeugen können, dass er und sein Vater gemeinsam eine Verschwörung ausheckten. Das war durchaus möglich. Aber es spielte jetzt keine Rolle mehr.
Wy-lam konnte sogar zu einer noch größeren Gefahr werden als die Frau. Das Amt des Abtes war nicht erblich. Der Engländer konnte nicht den Anspruch erheben, ein Trulku zu sein wie sein Vater. Das befürchtete Tsarong Rinpoche auch nicht. Aber jeder in Dorje-la kannte die Prophezeiung, dieman in einem alten Terma -Buch gefunden hatte: Wenn Dorjela von einem Pee-ling regiert wird, dann wird die Welt von Dorje-la aus regiert. Und man wusste auch, wie es in dem Buch weiterging: In dem Jahr, da der Sohn eines Pee-lings Sohn in das Land des Schnees kommt, in diesem Jahr wird der Maidari Buddha erscheinen. Der Sohn eines Pee-lings Sohn wird der letzte Abt von Dorje-la sein und zugleich der größte.
Von alledem wusste der Engländer nichts, aber die Frau konnte ihn darauf aufmerksam machen und ihn benutzen, um Unterstützung im Kloster zu mobilisieren. Wy-lam brauchte nur seinen Sohn dazu zu bringen, mit ihr zusammenzuarbeiten und die Rolle zu spielen, die sie für ihn vorsah.
Der Mehrzahl der Mönche war sich Tsarong Rinpoche noch nicht sicher. Beim geringsten Druck konnten sie sich in eine andere Richtung wenden.
Das galt es mit allen Mitteln zu verhindern. Er wusste nicht, was der Burjate mit Wy-lam oder der Frau vorhatte. Aber für ihn selbst war sonnenklar: Chindamani und der Engländer mussten in dieser Nacht sterben.
Das Fenster gab ohne großen Druck nach. Es war nicht dafür gemacht, Eindringlinge fernzuhalten. Kein Mensch konnte die über dreißig Meter aus dem Abgrund heraufklettern. Chindamani ließ sich in den Raum fallen. Drinnen war es warm. Hier war Christopher gewesen, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Sie vermisste seine warmen Sachen, in denen er nach Dorje-la gekommen war. Darin mussten sie ihn fortgebracht haben. Was war geschehen?
Vorsichtig schritt sie zur Tür. Ihr Herz schlug immer noch heftig von der nervenaufreibenden
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