Der neunte Buddha - Thriller
konzentrieren – wie sie die nächsten Minuten überstehen sollte.
Sie bewegte sich nur zentimeterweise vorwärts, schob die Füße sacht über den Sims, die Hände fest an die Mauer gepresst. Die Steine waren uneben. Der Putz war an einigen Stellen herausgefallen, so dass man die Oberfläche schlecht beurteilen konnte. Die Welt bestand für sie jetzt nur noch aus der Mauer, dem Sims und dem schwarzen Abgrund hinter ihr. Weiter gab es nichts, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Sie schob sich aus dem einzigen Grundden Sims entlang, dass sie auf ihm stand. Alle anderen Gründe und Motive waren vergessen.
Plötzlich glitt ihr linker Fuß aus, und sie neigte sich seitwärts. Einen langen Augenblick musste sie balancieren, das ganze Gewicht auf dem rechten Fuß, sich verzweifelt gegen die Schwerkraft wehrend, die sie hinunterzuziehen und dem Wind preiszugeben drohte. Ihre gefrorenen Finger krallten sich in den nackten Stein, nach dem winzigsten Riss suchend, um sich festzuhalten.
Ein Stück des Simses war nicht mehr da. Vielleicht hatte es nie existiert. Sie konnte sich nicht erinnern, wie weit sie das letzte Mal gekommen war. Wie breit mochte die Lücke sein? Fünfzehn Zentimeter? Dreißig? Oder gar mehrere Meter? Sie hatte nichts dabei, um die Lücke zu prüfen. Im Dunkeln konnte sie auch nichts sehen. Wenn sie sich irrte oder ihre Kräfte nachließen, würde sie das Gleichgewicht verlieren und sich auf den Felsen zu Tode stürzen. Wenn sie zurückging, um etwas zu holen, mit dem sie die Lücke messen konnte, würde sie nicht noch einmal imstande sein, diesen Weg zu gehen.
Vorsichtig, das Gewicht auf dem rechten Bein haltend und fest an die Wand gepresst, um maximales Gleichgewicht zu gewinnen, streckte sie den linken Fuß über die Lücke, um den Sims zu ertasten. Der Wind pfiff ihr in den Ohren und lenkte sie ab. Er zerrte an ihren Kleidern und suchte sie von der Mauer zu lösen. Ihr Herz zitterte in der Brust.
Allmählich begann sich ihr Gewicht nach links zu verlagern, aber sie hatte das Ende des Simses noch nicht gefunden. Sie wollte ihr rechtes Knie etwas beugen, um den Körper weiter nach unten zu verlagern, aber dadurch hätte sie sich nur von der Wand entfernt. Schweiß brach ihr aus. Auf Gesicht und Handflächen wurde er sofort zu Eis. Sie erschauerte und spürte, wie sie allmählich ins Wanken kam.Immer noch nichts. Ihr linker Fuß fand keinen Halt. Die Muskeln des rechten Beins schmerzten höllisch. Sie befürchtete, einen Krampf zu bekommen. Nach wie vor nichts. Sie wollte schreien, um die Spannung zu lösen und die Muskeln zu lockern.
Sie verlagerte ihren linken Arm ein wenig, danach den rechten. Dann streckte sie den linken Fuß noch einen Zollbreit weiter vor. Immer noch nichts. In ihrem Kopf sagte eine heimtückische Stimme: Gib auf, gib auf! Sie wollte sich fallen lassen. Der Abgrund hätte alle ihre Probleme gelöst. Warum eigentlich nicht? Die Göttin würde einen neuen Körper finden. Immer noch nichts.
Noch ein paar Zentimeter, und sie hatte ihre Grenze erreicht. Schon fürchtete sie, sie hätte, ohne es zu bemerken, den Punkt bereits überschritten, an dem sie nicht mehr zurückkonnte, wo sie ihr Gleichgewicht nicht mehr wiederfand. Das rechte Bein schrie vor Schmerz, es konnte die Anstrengung des Rückzuges wohl kaum noch meistern. Jetzt war ihr linkes Bein völlig ausgestreckt. Immer noch nichts.
Da spürte sie ihr Gleichgewicht schwinden. Für eine Sekunde konnte sie es noch halten, dann verlor sie die Kontrolle, kippte langsam nach links … und wollte schon in den Abgrund fallen.
Da erfasste sie mit dem Zeh den Rand des Simses und krallte sich fest. Nicht mehr. So hing sie zwischen Leben und Tod, hatte mental bereits losgelassen und musste nun alle ihre Muskeln zu einer letzten Anspannung bewegen, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Die Dunkelheit schien zu weichen, und sie stand in einer Welt des Lichts. Dann verlosch das Licht, und sie war zurück auf dem kalten Sims, zitternd und fast in Panik.
Sie kämpfte die aufsteigende Angst nieder und schob ihren linken Fuß weiter auf den Sims, inständig betend, dass er halten möge. Irgendwo in ihrem Kopf betete sie die Mantra der Tara, aber tief in ihrem Inneren hatte sie die Göttin verloren. Allein ihre Sinne banden sie noch an die Wirklichkeit. Dass ihr Fuß auf dem harten Sims hielt, erfüllte sie mit einem Glücksgefühl, das kein Gebet oder Opfer ihr je gebracht hatte.
Allmählich
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