Der neunte Buddha - Thriller
sie, dass sie damit ihr Schicksal besiegelt hatte. Ob er sie hörte oder verstand, ob er sich später daran erinnerte, war nicht wichtig. Wenn es ihnen gelang, aus Dorje-la zu entkommen, dann würden sie diese Worte enger an ihn binden als ein kindlicher Schwur sie je an die Göttin Tara, das Dharma oder Buddha gebunden hatte. Sie gehörte jetzt zu ihm, wie sie noch zu niemandem gehört hatte, am allerwenigsten zu sich selbst.
Gegen den heftigen Wind kämpften sie sich bis zur Luke durch und stiegen wieder hinab. Nachdem sie die Luke geschlossen und die Leiter fortgeräumt hatten, standen sie schweigend voreinander.
»Wir müssen zu meinem Raum zurück«, sagte sie. »Es gibt einen Verbindungsgang in der Nähe, durch den wir ungesehen hingelangen.«
»Und dann?«, fragte er.
Sie zögerte.
»Das … erkläre ich dir, sobald wir dort sind«.
Wenn Tsarong Rinpoche sich zuvor große Sorgen gemacht hatte, so war er jetzt geradezu außer sich. Der Pee-ling hatteseinen Wächter getötet und war aus seinem Raum entkommen. Er konnte überall im Kloster sein. Wenn es ihm gelang, zu der Frau vorzudringen, dann fand sie einen Weg, sie beide zu verstecken, bis ihre Zeit gekommen war.
Aber er konnte noch eines tun, um wenigstens das zu verhindern. Die Pistole, die Sam-ja-ting ihm gegeben hatte, steckte in seiner Tasche. Zärtlich tastete er nach ihr und spürte ihre stumme Perfektion in seiner Hand. Das war eine Botschaft aus einer anderen Welt, die ihm sagte, welche Möglichkeiten irdische Macht barg. Von ihr ging eine Überlegenheit aus, die er noch in nichts anderem gespürt hatte. Er erinnerte sich, wie er den Abzug betätigt hatte, als er den nepalesischen Jungen auf dem Pass tötete. Immer noch spürte er den Kitzel jenes Augenblicks, den er um alles in der Welt wieder erleben wollte. Nicht einmal das Aufhängen so vieler Gegner in dieser Nacht hatte ihn in solche Erregung versetzt.
Dabei erfüllte ihn die Waffe in seiner Tasche auch mit Sorge. Er hatte alle seine je geleisteten Schwüre gebrochen. Wenn es wirklich weitere Leben nach diesem gab, dann würde er für seine Taten einen schrecklichen Preis bezahlen. Er hoffte, Sam-ja-ting hatte recht, und dieses Leben war das einzige, das einem Menschen beschieden war. Darauf hatte er alles gesetzt. Wenn das aber nicht zutraf, dann würde er mit dem, was er jetzt beabsichtigte, so große Leiden auf sich ziehen, dass fünfhundert Leben nicht ausreichten, um ihm wieder Frieden zu bringen.
Er entsicherte die Pistole und schritt in Richtung von Chindamanis Gemach.
Sie verloren keine Zeit. Chindamanis Geheimgang führte von einer kleinen Kapelle für die Göttin Tara direkt in ihren Raum. Nur sie, Sönam und Christophers Vater wussten von seiner Existenz. Er war vor Jahrhunderten angelegt worden,um der Inkarnation der Tara die Möglichkeit zu geben, sich zwischen ihrem Wohnraum und ihrer Privatkapelle ungesehen zu bewegen. Chindamani und zweifellos auch vielen ihrer Vorgängerinnen hatte er nicht nur zu Andachtszwecken gedient, sondern auch leichten Zugang zu anderen Teilen des Klosters ermöglicht. Von der Tara-Kapelle führten weitere Gänge zu verschiedenen Stockwerken – einer zum Lha-kang , wo es eine verhängte Nische gab, in der die Tara-Inkarnation den Andachten beiwohnen konnte, einer zu der jetzt in Eis und Frost gefangenen alten Tempelhalle, wo Christopher seinem Vater zum ersten Mal begegnet war, und ein dritter zum Gön-kang , falls die Tara-Inkarnation einmal die dunklen, aber wohlwollenden Schutzgottheiten anrufen wollte.
Der Gang endete an einer Tür zu Chindamanis Schlafgemach, die innen mit dicken Vorhängen getarnt war. Als sie und Christopher eintraten, fanden sie Sönam und die beiden Jungen so, wie Chindamani sie verlassen hatte. William saß resigniert auf seinem Bett. Samdup hatte sich zu der immer noch weinenden alten Frau gesetzt, um sie zu trösten.
»Ama-la«, sagte Chindamani, »ich bin zurück. Ich habe Ka-ris To-feh, den Sohn des Dorje Lama, mitgebracht.«
Beim Klang ihrer Stimme blickte Sönam auf. Ihre alten Augen waren vom Weinen gerötet. Ihre Verzweiflung hatte sich noch verstärkt und berauschte sie wie eine Droge.
»Mein Mädchen«, rief sie, »man hat den Dorje Lama getötet! Wir können überhaupt nichts mehr tun!«
»Ich weiß, Ama-la«, flüsterte Chindamani. »Ich weiß.« Jetzt, da der Augenblick der Flucht gekommen war, fühlte sie sich schlecht und schuldbeladen. Wie konnte sie Sönam hier bei Tsarong Rinpoche und dessen
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