Der neunte Buddha - Thriller
überwältigen zu lassen.
»Chindamani«, rief er. »Bitte, sag doch was! Der Pee-ling hat recht, wir müssen fliehen. Beeil dich, sonst finden sie uns hier.«
Als hätte die Stimme des Jungen wie ein Zauberspruch auf sie gewirkt, bewegte Chindamani die Augen. Ihr Arm fiel herab und sie schaute Samdup an.
»Mir ist kalt«, sagte sie kaum hörbar.
Samdup blickte zu Christopher auf.
»Die Sachen für die Reise sind in der Truhe dort«, sagte er. »Ich sollte sie zusammenpacken, aber ich musste mich um Sönam kümmern. Dabei habe ich es vergessen.«
»William«, rief Christopher. »Wir gehen fort von hier. Hilf Samdup, die Sachen aus der Truhe zu nehmen.«
Während die Jungen fieberhaft darangingen, Kleidung, Zelte und Proviantbeutel zu sortieren, half Christopher Chindamani, sich niederzusetzen. Er legte einen Arm um sie, und ihm fiel ein, wie schnell sie ihre Rollen getauscht hatten.
»Wohin gehen wir, Ka-ris To-feh?«, fragte sie.
»Fort von hier«, antwortete er. »Weit fort.«
Sie lächelte versunken und beugte sich nieder, um einige Taschen aufzunehmen.
»Binde sie jetzt nicht fest«, sagte Christopher. »Das können wir später tun. Im Moment geht es darum, so schnell wie möglich aus diesem Raum zu kommen.«
Chindamani wandte sich um und blickte ein letztes Mal zu Sönam hinüber. Die alte Frau lag noch so da, wie Chindamani sie gebettet hatte, die Augen im Schreck geweitet. Chindamani beugte sich nieder und legte sie ordentlich hin. Mit einer Hand drückte sie ihr die Augen zu, dann küsste sie sie sanft auf die Lippen. Draußen trappelten Füße heran.
»Schnell!«, zischte Christopher. »Weg von hier!«
Er hielt den Vorhang beiseite, Chindamani stieß die Geheimtür auf und schlüpfte nach Samdup und William in denGang. Christopher folgte und schloss die Tür, die hörbar klickte. Selbst wenn jemand die Vorhänge herunterriss, würde das uneingeweihte Auge die Öffnung in der Wand kaum entdecken.
In einer Halterung brannte eine Lampe. Chindamani nahm sie heraus und erleuchtete damit den Gang. Aus dem Raum, den sie gerade verlasen hatten, drangen gedämpfte Stimmen an ihr Ohr.
»Was ist passiert, Chindamani?«, fragte Christopher, als sie ein Stück von der Tür fort waren.
»Was habt ihr getan? Warum hat er sich umgebracht?«
Sie antwortete nicht sofort. Da sie vor ihm ging und leuchtete, konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Die Wände des Ganges waren rau und unverputzt, aber an einer Stelle hatte jemand, zweifellos eine von Chindamanis Vorgängerinnen, eine ländliche Szene an die Wand gemalt: Eine Mutter mit ihren Kindern stand vor einem Bauernhaus, umgeben von Schafen und Yaks. Das Licht ließ die Malerei für einen Augenblick hervortreten, dann verschwand sie wieder in der Dunkelheit.
»Es war ein Fluch«, sagte sie schließlich.
»Ein Fluch? Du glaubst doch nicht …?«
»Sönam kannte seine Bedeutung nicht.« Chindamani sprach weiter, als hätte sie seinen Einwurf nicht gehört. »Ein tantrischer Fluch. Es war unmöglich, dass sie ihn kannte. Das hat ihn so entsetzt. Nur die fortgeschrittensten Schüler sind in solche Dinge eingeweiht. Sönam hat sich manchmal über diesen Gang zum Lha-kang geschlichen, wenn sie dort unterrichtet wurden. Sie war fasziniert von den Studien und lernte alle möglichen Dinge auswendig. Sie verstand zwar nichts davon, konnte aber ganze Rituale, Beschwörungen und … Flüche auswendig hersagen.« Sie hielt inne und wandte sich zu Christopher um.
»Ich denke, Tsarong Rinpoche hätte seine Schuld ohnehin nicht mehr lange ertragen. Als er dann auch noch diesen Fluch aus dem Munde einer Person vernahm, die nach seiner Meinung davon überhaupt keine Kenntnis haben durfte, muss er geglaubt haben, die Götter sprächen aus ihr und verurteilten ihn.«
»Und du? Wieso hast du ihn weitersprechen können?«
»Oh, Sönam hat mich all die Dinge gelehrt, die sie im Lhakang gehört hatte. Manchmal sind wir auch zusammen dort gewesen und haben die Zeremonien stundenlang verfolgt. Aber …« Sie zögerte einen Augenblick. »Da war noch etwas, das mich geradezu getrieben hat. Das ist jetzt vorbei. Als er auf Sönam schoss, glaubte ich, etwas käme über mich.«
»Zorn?«
»Nein, mehr als das. Etwas ganz anderes. Ich kann es nicht erklären.«
»Das brauchst du auch nicht. Komm, wir müssen weiter. Sag mir lieber, wie wir aus Dorje-la herauskommen wollen.«
Von der Tara-Kapelle führte eine Reihe hölzerner Stufen und kurzer Gänge hinunter zum Gön-kang . Das kleine
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