Der neunte Buddha - Thriller
Leiter erblickten sie den Eingang in einen breiten Tunnel. Er war offenbar längere Zeit nicht benutzt worden, denn ein dickes, verstaubtes Spinnennetz spannte sich fast ganz darüber.
»Zumindest wissen wir jetzt, wohin wir gehen müssen«, flüsterte Christopher. Mit seinem Kurzschwert fegte er das Spinnenetz beiseite. Nun war der Weg frei.
Christopher ging voran. Er hielt die Lampe mit seinem ausgestreckten linken Arm vor sich, während seine rechte Hand das Schwert umkrampfte, um auf das erste Zeichen von Leben einzuschlagen. Das Herz schlug heftig in seiner Brust. Er glaubte, die Schläge müssten von den Wänden des Ganges widerhallen. Der Gestank begleitete sie auch hier und schien sich zu verstärken, je weiter sie vorankamen.
Der Gang war nicht hoch genug, dass Christopher aufrecht gehen konnte, aber ausreichend breit, um sich ohne Schwierigkeiten darin zu bewegen. Er war sicher, dass sie sich bereits außerhalb der Mauern des Klosters befanden. Die Kälte in dem Tunnel unterschied sich von der in all den Gängen, die sie auf dem Weg von Chindamanis Raum passiert hatten. Die waren auch kalt, aber doch leicht überschlagen von der Wärme, die aus benachbarten bewohnten Teilen durchsickerte. Hier dagegen herrschte eine übelriechende, beklemmende Kälte, schneidend und feucht, als ob in dieser Luft jahrhundertelang kein menschliches Wesen geatmet hätte.
Christophers Fuß stieß gegen etwas. Es war hart und ein wenig brüchig. Langsam senkte er die Lampe, um den Boden vor sich zu beleuchten.
Zuerst konnte er nicht erkennen, was es war. Eine Art Bündel, etwa 1,50 Meter lang, an einigen Stellen kantig, schmutzigund grau. Als er es stärker beleuchtete, wurde ihm plötzlich klar, was es war … oder gewesen war.
Der kleine Körper wirkte stark eingefallen, als hätte ihn etwas über lange Zeit ausgesogen. Er bestand nur noch aus trockener Haut über alten Knochen. Durchsichtige Hände waren wie Klauen um die Kehle gelegt. Der Kopf war weit zurückgeworfen, als ob das Wesen in Agonie gestorben wäre. Von Kopf bis Fuß hüllten verstaubte Strähnen einer Art verrotteten Gewebes den Leichnam ein – ähnlich den Spinnennetzen, die sie zuvor gesehen hatten. Dadurch wirkte das Ganze wie ein Kokon, den jemand ordentlich verpackt zum Trocknen in diesen Gang gelegt hatte. Er musste schon sehr lange hier liegen. Vielleicht Hunderte von Jahren. Christopher erschauerte und hob seine Lampe.
»Was ist los, Christopher«, flüsterte Chindamani. »Warum bist du stehengeblieben?«
»Ach, nichts. Nur … ein Hindernis. Haltet euch rechts, dann kommt ihr gut daran vorbei.«
Er ging weiter, zögernd nun und wachsam beobachtend, was sie noch in diesem Gang erwartete. Sönams Wächter löste sich allmählich aus dem Nebel der Legende und gewann Substanz. Hinter sich hörte er die anderen nach Luft ringen, als sie des Hindernisses ansichtig wurden.
Der nächste Leichnam lag nur ein paar Meter von dem ersten entfernt. Er war in sitzender Stellung gestorben und lehnte noch jetzt an der Wand. Er hielt die Arme ausgestreckt, als habe er etwas abgewehrt, das aus der Dunkelheit auf ihn zugekommen war. Wie der erste war auch er zusammengeschrumpft und eingefallen. Unter Schichten von staubbedecktem Gewebe war braunes, lederartiges Fleisch zu erkennen. Es schien Christopher, als hätte irgendetwas den Leichnam zusammengebunden und langsam ausgesaugt.
»Wer sind die, Christopher?« Chindamanis Stimme warjetzt dicht hinter ihm. Sie stand da, einen Arm um Samdup gelegt, und blickte auf den kleinen Leichnam herab. Der Junge schien besorgt, aber nicht verängstigt. Christopher musste daran denken, dass er in einer Kultur aufgewachsen war, die die Symbole des Todes nicht fürchtete. Statt mit Bo Peep und Humpty Dumpty konnten die Wände von Samdups Kinderzimmer durchaus mit totem Fleisch und modernden Knochen ausgemalt gewesen sein. Statt eines Teddybären hatte vielleicht eine Yama-Figur an seinem Bett gesessen.
»Ich denke, das war ein Kind«, sagte Samdup. Aber er schloss wohl nur wegen der geringen Größe darauf. »Möglicherweise ist es später gestorben als das erste. Es liegt weniger Staub darauf.« Er hielt inne. »Vielleicht kommen noch mehr. Wollen Sie weitergehen?«, fragte er Christopher.
»Natürlich«, antwortete der. »Wir haben keine Wahl, das haben Sie selbst gesagt.«
Fünf Meter weiter stieß Christopher auf ein schweres Spinnennetz, das den Tunnel beinahe ganz blockierte. Er fegte es beiseite, und schon stieß er
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