Der neunte Buddha - Thriller
scharfen Blick.
»Wenn Sie ihn gesehen hätten, würden Sie das verstehen. Mit dem wollte ich mich nicht anlegen. Vielleicht hätte ich es tun sollen, ich weiß nicht. Aber wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären … Oder kennen Sie ihn gar?«
Chindamani antwortete nicht.
»Waren die Ponys, die Sie ihm verkauft haben, gesund? Stark genug, um eine weite Reise zu überstehen?«, fragte Christopher.
Die alte Frau wirkte gekränkt.
»Natürlich waren sie das. Glauben Sie, ich verkaufe kranke Tiere? Für so einen beschwerlichen Weg?«
Christopher konnte sich vorstellen, dass sie das tat, und wenn möglich, sogar für einen saftigen Preis.
»Ich wollte Sie nicht beleidigen«, entschuldigte er sich. »Aber Sie hatten ja gesehen, wie er die vorigen Pferde behandelt hatte. Vielleicht wollten Sie ihm nicht ihre besten Tiere anvertrauen.«
Etwas milder gestimmt, aber immer noch ärgerlich sagte sie: »Der Gedanke ist mir schon gekommen. Aber er hat sich meine ganze Herde angeschaut und drei für sich ausgewählt. Es waren die besten in meinem Stall und entsprechend teuer. Er wird sie auch nicht anders behandeln. Aber sie werden ihn weit tragen. Er ist jetzt bestimmt schon zwanzig Shasas oder noch mehr von hier entfernt.«
Ein Shasa war eine Tagesreise, für die man zwischen fünfzehn und dreißig Kilometer veranschlagte. Bei Samjatins Tempo waren sie ihnen bestimmt dreißig Shasas voraus.
»Jetzt werden wir sie wohl nicht mehr einholen, Ka-ris«, sagte Chindamani niedergeschlagen.
»Sie treffen ein paar Tage vor uns in Urga ein, das ist alles«, sagte er. Aber es war schon ein Nachteil, dass sein Rivale so schnell vorankam. »Wir werden sie eben dort ausfindig machen. Immer mit der Ruhe. Auch sie haben noch einen langen Weg vor sich. Und sie werden nicht immer frische Ponys bekommen, wenn sie sie brauchen. Außerdem müssen sie die Wüste Gobi durchqueren oder umgehen.«
»Wir auch«, sagte sie darauf.
Zunächst etwas entmutigt, setzten sie ihren Weg fort. Sie ritten jetzt schneller, rasteten seltener und standen jeden Tag schon vor dem Morgengrauen auf. Zumindest, so überlegte Christopher, waren sie bislang auf der richtigen Spur. Samjatin hatte mit den Jungen diesen Weg genommen. Welche Haken er auch schlagen mochte, er musste immer wieder aufdie kürzeste Trasse zurückkehren. Und ihr Bestimmungsort war ohnehin derselbe.
Sie ritten durch die riesigen Steppen von Chang Tang, dem nordwestlichen Teil des tibetischen Hochlandes. Jenseits der nördlichen Zuflüsse des Jangtse kamen sie nach Amdo. Sie hielten Kurs nach Nordosten in Richtung Mongolei.
Täglich kamen sie an kleinen Nomadenlagern aus niedrigen schwarzen Zelten vorbei, die sich stark von den runden Jurten der Mongolen im Norden unterschieden. In den Tälern hüteten Hirten kleine Yakherden. Sie sahen zu, wie Christopher und Chindamani vorüberritten, dann wandten sie sich wieder ihrem endlosen Tagewerk zu.
Zehn Tage nach der Rast in Nagchu Dzong erreichten sie das Südufer des Kukunor, des größten Sees, der die Nordostgrenze Tibets bewacht. Einige Kilometer weiter lag bereits die chinesische Provinz Gansu.
Christopher wurde unruhig. Die Chinesen waren gereizt. Sie fühlten sich in der Mongolei bedrängt und spielten mit dem Gedanken, sich in Tibet schadlos zu halten, wenn man ihnen das Gebiet im Norden wieder aus den Händen riss. Sollten chinesische Soldaten Christopher als Engländer identifizieren, der in Gansu eingedrungen war, dann hatte er große Zweifel, ob sie sich an die diplomatischen Gepflogenheiten halten würden. Wahrscheinlicher war es, dass sein Kopf bald eine der scharfen Spitzen auf den Zinnen der Stadt Sining-fu zieren werde.
Es war die Zeit der Warlords, der großen Kriegsherren. In China tobte Bürgerkrieg, und keine Zentralregierung war in der Lage, wieder normale Zustände herzustellen. Die Dynastie der Mandschus hatte man verjagt, aber die Republik war kaum mehr als ein leeres Wort. In den Provinzen regierten Chaos und Blutvergießen. Bauernarmeen entstanden,zogen in die Schlacht und wurden ausgelöscht. An ihrer Stelle bildeten sich neue. Der Tod hielt reiche Ernte.
Sanft senkte sich die Steppe zu den dunklen Wassern des Sees hinab. Kleine Wellen kräuselten seine Oberfläche, und Christopher musste an das Meer zu Hause denken. Im Norden lief die Tsun-Ula-Kette von Ost nach West, bis sie hinter dem Horizont verschwand. Mehrere Gipfel trugen noch weiße Schneehauben.
In der Mitte des Sees lag eine Felseninsel mit einem
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