Der neunte Buddha - Thriller
symbolisierte.
Jetzt nahm Christopher die Waffe auf. Ihm war inzwischen klar, wer der Baron war. Er wusste, was er zu tun hatte, wenn sie hier noch lebend herauskommen wollten. Ungern-Sternberg trug eine Pistole bei sich, die in einer Ledertasche an seinem Gürtel steckte. Er war dem Drama ohne sichtbare Regung gefolgt – eher ein Zuschauer als ein Beteiligter. Jetzt schaute er auf Christopher und die Pistole in dessen Hand, als biete der ihm eine Blume dar.
Diese Präzision, diese Absolutheit und Endgültigkeit – das war es, was ihn am Tod so faszinierte und worüber er in den langen Tagen und Nächten von Urga nachgegrübelt hatte. Wie einfach er doch war, dachte er bei sich, wie klar und ungekünstelt. Das bewunderte er – diese letzte Demonstration der angeborenen Einfachheit des Menschen. Eine Perfektion, die er in nichts anderem gefunden hatte. Diese Vollkommenheit und kühne Einfachheit, die er sich so gern wieder und wieder hatte vorführen lassen.
Und nun sein eigener Tod. Er kam früher als erwartet, aber er war ihm willkommen. Es war wohl eine gute Zeit zum Sterben.
Christopher hob die Pistole. Im Magazin steckten noch mehrere Kugeln, doch er brauchte nur eine einzige. Er trat dicht an den Baron heran und schaute ihm direkt in die Augen. Jetzt begriff er die Geschichten, die er über ihn gehört hatte. Es war besser für alle, wenn er Ungern-Sternberg beseitigte. Er legte die Waffe an den Kopf des Barons und spürte, wie der Abzugshahn dem Druck seines Fingers nachgab. Der Mann machte keine Bewegung. Tief senkte er seinen Blick in Christopers Augen, geduldig und ohne jeden Vorwurf.
So ging das nicht. Christopher spürte, dass er nicht zumScharfrichter taugte. Nicht einmal bei diesem Mann. Er ließ die Waffe sinken und warf sie weit fort in eine Ecke.
Draußen erklang Fußgetrappel.
»Warum haben Sie nicht geschossen?«, fragte Ungern-Sternberg.
»Das werden Sie nie verstehen«, erwiderte Christopher, wandte sich ab und legte den Arm um Chindamani. Sie zitterte.
Die Tür sprang auf, und eine Gruppe Bewaffneter lief in den Raum. Sie blieben bestürzt stehen und suchten die Szene zu erfassen. Dann gingen zwei an Ungern-Sternberg vorbei, packten Christopher und Chindamani und zerrten sie auseinander.
»Lasst sie gehen!«, sagte Ungern-Sternberg in scharfem Ton.
Die Soldaten blickten ihn verwundert an, aber der Befehl war unmissverständlich. Sie ließen die Hände sinken. Christopher und Chindamani waren frei. Christopher beugte sich nieder und nahm Samdups Leichnam auf. Er war noch warm. Blut lief über Christophers Hände. Er drückte den Jungen einen Augenblick an sich und übergab ihn dann Chindamani. Ungern-Sternberg sah zu, wie Christopher durch den Raum zu seinem Sohn ging und ihn vorsichtig aufhob.
Als sie den Raum verließen, fiel kein Wort. Ungern-Sternberg gab ihnen einen Mann mit, der sie sicher hinausgeleiten sollte. Hinter ihnen blieb der Hutuktu zurück, der sich auf einem Haufen Kissen niedergelassen hatte und mit nervösen Fingern seine Seidengewänder zerknüllte. An seinen Händen hatte er immer noch den Geruch des Jungen. Wenn der Morgen graute, würde auch er verflogen sein. Er schloss die Augen, als sei etwas in seine Dunkelheit eingedrungen. Er träumte von Freiheit.
61
Sie trugen die beiden kleinen Leichname zum Maidari-Tempel und legten sie dort zu Füßen der riesigen Figur des Maidari Buddha nieder. Zwischen der Statue und Samdup war keine Ähnlichkeit festzustellen, wenn man davon absah, dass beide nicht lebten und atmeten. Chindamani ordnete Samdups Haar und Kleidung, tat aber sonst nichts, um die Tatsache zu verbergen, dass er tot war. Christopher nahm den kleinen Teddybär und legte ihn in Williams Arme, wie er es in England getan hatte, wenn der Junge schlief. Beide sprachen kein Wort.
Im Morgengrauen verließen sie den Tempel. Auf seinen Turmspitzen lagen bereits die ersten Sonnenstrahlen. Überall erhoben sich die Pilger zum ersten Gebet des Festtages. Mit Gebeten baten sie um das Paradies und um einen leichten Tod, der sie dorthin bringen sollte, um die Vergebung ihrer Sünden und um genug zu essen für die Heimreise. Heute würde ihnen nichts abgeschlagen werden.
Christopher und Chindamani verließen die Stadt, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden wollten. Ihre Kleider und ihr Haar waren blutbefleckt, aber sie gingen vor sich hin ohne einen Gedanken daran, sich zu säubern oder auszuruhen.
Als sie endlich stehenblieben, war es bereits Nachmittag. Längst
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