Der neunte Buddha - Thriller
Sonntag vor Weihnachten. Wir kamen gerade von der Messe.«
Bei diesem Wort nahm das Gesicht des Missionars einen angewiderten Ausdruck an.
»Und das soll ich Ihnen glauben?«, sagte er scharf. Christopher entging nicht, dass er nervös mit einem kleinen Brieföffner aus Elfenbein spielte, der auf seinem Tisch lag. »Es ist doch gar nicht möglich, dass jemand, der noch vor zwei Wochen in England gewesen sein will, jetzt hier in diesem Raum sitzt und mit mir spricht. Das wissen Sie so gut wie ich, wenn Sie nicht ganz von Sinnen sind. Leben Sie wohl, Mr. Wylam. Sie haben mir genug Zeit geraubt.«
»Bleiben Sie bitte sitzen und hören Sie mir zu. Ich bin bis vor neun Tagen in England gewesen, wenn Sie es genau wissen wollen. Und es ist gar nichts Besonderes daran, dass ich jetzt hier sitze. Freunde in England haben für mich arrangiert, dass ich in einem Doppeldecker nach Indien fliegen konnte. Die Welt verändert sich, Mr. Carpenter. Bald wird jeder nach Indien fliegen können.«
»Und Ihr Sohn? Der angeblich entführt wurde? Wo ist er jetzt? Auch in Indien?«
Christopher schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Er könnte durchaus in Indien sein. Aber eher wohl bereits auf dem Weg nach Tibet.«
»Vielleicht, Mr. Wylam, sagen Sie ja die Wahrheit darüber, wie Sie hierhergekommen sind. Die moderne Wissenschaft vollbringt wahre Wunder. Der Herr hat uns die Mittel gegeben, sein Evangelium in die entlegensten Regionen des Erdballs zu tragen. Aber der Rest Ihrer Geschichte leuchtet mir trotzdem nicht ein. Es tut mir sehr leid zu hören, dass IhrSohn entführt wurde. Meine Frau und ich werden für seine Rückkehr beten. Doch ich kann nicht erkennen, wie ich Ihnen dabei behilflich sein soll. Der Mann, der in unserer Obhut gestorben ist, hatte keinerlei Nachrichten bei sich. Er hat auch nichts Zusammenhängendes von sich gegeben. Er wurde von niemandem besucht. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Auf mich warten dringende Angelegenheiten.«
Carpenter erhob sich wieder und streckte seine Hand über den Schreibtisch. Christopher tat es ihm gleich. Die Finger des Missionars fühlten sich trocken und zerbrechlich an.
»Ich bitte Jennie, Sie hinauszubringen.« Er nahm eine kleine Messingglocke und klingelte heftig. Ein beklommenes Schweigen trat ein. Christopher sah, dass Carpenter ihn dringend loswerden wollte. Was verbarg er vor ihm? Und wovor hatte er Angst? Da brach der Missionar noch einmal das Schweigen.
»Mr. Wylam«, sagte er. »Entschuldigen Sie bitte. Ich war etwas kurz angebunden. Im Augenblick stehe ich unter großem Druck. Die Werke des Herrn fordern unseren vollen Einsatz. Und natürlich ängstigen Sie sich sehr um Ihren Sohn. Das muss Sie stark beschäftigen.
Dürfte ich ein wenig wiedergutmachen und Sie für heute Abend zum Essen einladen? Nur mit meiner Frau und mir. Zu einem einfachen Mahl, denn dies ist ein Haus der Barmherzigkeit, kein Palast. Aber für einen Gast reicht es bei uns immer. Und vielleicht kann mitfühlende Gesellschaft Ihren Kummer ein wenig lindern.«
Normalerweise hätte Christopher abgelehnt. Die Vorstellung, mit der schwarzgewandeten Mrs. Carpenter und ihrem vertrockneten Gatten ein frugales Mahl einzunehmen, erschien ihm nicht gerade verlockend. Aber diese Einladung, die Christopher unnötig und überraschend vorkam, bestärkteihn in der Überzeugung, dass Carpenter über etwas beunruhigt war.
»Ich nehme gerne an. Vielen Dank.«
»Gut. Das freut mich. Wir essen um sieben. Keinerlei Formalitäten. Seien Sie ein wenig eher hier, dann zeige ich Ihnen etwas von unserer Arbeit, bevor wir uns zu Tisch setzen.«
Es klopfte und das indische Mädchen, das Christopher geöffnet hatte, trat ein.
»Jennie«, sagte Carpenter. »Mr. Wylam verlässt uns jetzt. Wir erwarten ihn heute zum Abendessen. Wenn du ihn zur Tür geleitet hast, dann teile bitte Mrs. Carpenter mit, dass sie zu mir kommen möchte.«
Das Mädchen knickste stumm. Christopher schüttelte noch einmal Carpenters Hand und verließ das Arbeitszimmer.
John Carpenter blieb an seinem Schreibtisch stehen, die Hände auf der Tischplatte, als brauche er jetzt eine Stütze. Er hörte, wie sich die Haustür öffnete und schloss und wie Jennie zum Zimmer seiner Frau eilte. Der Teil des Waisenhauses, den er mit seiner Frau bewohnte, war ruhig, voller Teppiche und Samtvorhänge, mit dunklen Tapeten an den Wänden und mit schweren Möbeln eingerichtet. Die Geräusche waren gedämpft, das Licht trübe und die Luft
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